Tui Na
Traditionelle Chinesische Massage
und manuelle Therapie
von Rolf Rothe, Heilpraktiker und Dozent für Tui Na
Seit jeher schon ist die manuelle Manipulation am menschlichen Körper eines der frühesten, ältesten und wohl auch erste Konzept zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Wohl jede menschliche Gemeinschaft kennt Methoden, um in dieser Art und Weise auf den Organismus einzuwirken.
Die Chinesische Medizin hat wohl eine der ausgereiftesten und kontinuierlichsten Methoden dieser Form der Therapie kreiert. Die frühesten Zeugnisse dieser Methode lassen sich bis in die Shang-Dynastie (1500-1025 v. Chr.) zurückdatieren. Aus dieser Zeit existieren Knochen und Schildkrötenpanzer, auf denen, neben Orakelinschriften, auch Hinweise auf Behandlungen von Patienten mit Massage zu finden sind.
Der Begriff "Massage" wird in der chinesischen Sprache als An Mo (An: Drücken, Mo: Streichen) wiedergegeben, das in Aufzeichnungen seit der Frühlings- und Herbstperiode (722-481 v. Chr.) bekannt ist. Zhang Zhong Jing, ein berühmter Arzt der östlichen (oder späteren) Han-Dynastie (23-220 n. Chr.) erwähnte als erster die Methode Gao Mo, die das Auftragen spezieller Salbenmixturen in Verbindung mit massierenden Manipulationen auf den Körper beschreibt. Hua Tuo, ein weiterer berühmter Arzt zur Zeit der Drei Reiche (220-280 n.Chr.) war ein Spezialist in der Behandlung fieberhafter Erkrankungen und dem Beseitigen oberflächlicher pathogener Faktoren mit dieser Methode.
Das erste große Zeitalter der Massage waren die Sui- (589-618) und die Tang- (618-907) Dynastie. In einer Auflistung der Stellenbesetzung des kaiserlichen Krankkenhauses werden bereits Tui Na-Doktoren genannt, denen wiederum "Meister der Massage" unterstanden, die wiederum "Masseure" unter sich hatten. In dem Werk "Allgemeine Abhandlung über Ursachen und Symptomen von Beschwerden" von Chao Yuan Fang finden sich am Ende jeden Bandes Anweisungen zu Körper- , Atemübungen und Massage. Auch bei Sun Si Miao gehören in seinem Werk "Rezepturen, die 1000 Goldstücke wert sind", Anweisungen zu Atemübungen und Massage zu den gängigen Therapievorschriften. Zum Beispiel erweiterte er die Anwendungsbereiche der "Gao Mo"-Therapie und behandelte damit Erkrankungen bei Kindern, wie "konvulsiver Anfall aufgrund von Furcht", "verlegte Nase mit gelbem Sekret", nächtliches Weinen" und "Unfähigkeit zum Saugen".
Das zweite große Zeitalter der Massage war die Ming-(1368-1644) Dynastie. Die Massage wurde in die dreizehn Fachbereiche der Traditionellen Chinesischen Medizin des Instituts der kaiserlichen Ärzte reintegriert. Im besonderen wurde während dieser Zeit nach und nach reichhaltige klinische Erfahrung und theoretisches Wissen über die Anwendung der Massage bei Kinderkrankheiten gesammelt. Zu dieser Zeit nahm die Massage bei Kindern als akademischer Zweig Form an. Außerdem wurde ein eigenständiges, speziell auf die Massage zugeschnittenes System der Diagnose, von Manipulationen, anwendbaren Punkten und Behandlungsformen begründet. Aus dieser Zeit stammt auch die begriffliche Definition dieser Fachrichtung der TCM als Tui Na (Tui: Schieben oder Stoßen, Na: Greifen, Aufnehmen) als die sie auch heute noch bezeichnet wird.
Dieser Aufschwung ging kontinuierlich in die Qing-(1644-1911) Dynastie über, verlor kurfristig während des Übergangs zur Volksrepublik China, sowie während der Kulturrevolution an Bedeutung und nahm danach insbesondere von Shanghai wieder an Bedeutung zu, von wo es sich dann letztendlich über ganz China wieder verbreitete und heuzutage innerhalb der TCM fest etabliert und aus dem therapeutischen Alltag nicht wegzudenken ist.
Das Behandlungsspektrum der Tui Na-Therapie reicht durch nahezu alle medizinischen Fachbereiche hindurch und ist bei inneren Erkrankungen ebenso erfolgreich, wie z.B. auch bei Erkältungskrankheiten, die durch das Eindringen äußerer pathogener Faktoren bedingt sind. Ein wesentlicher Schwerpunkt jedoch, um nicht zu sagen, die Domäne dieser Therapieform, liegt im Bereich Traumatologie/Orthopädie und der Pädiatrie. Die neuzeitliche Untergliederung des Tui Na gestaltet sich wie folgt:
- Massage (An Mo)
- Chiropraktik (Tui Na)
- Wund- und Frakturbehandlung (Gu Shang Ke)
Gu: Knochen; Shang: Verwundung; Ke: Fachgebiet
- Physiotherapie (Li Liao)
Li: Natur; Liao: Behandlung
- Funktionelle Fertigkeiten (Qi Gong)
Nach diesem kurzen allgemeinen und geschichtlichen Überblick
nun die Darstellung einiger wesentlicher theoretischer Grundlagen der Tui Na-Therapie:
Der therapeutische Effekt einer TUI NA-Behandlung wird dadurch erreicht, daß von außen an den Körper gebrachte Signale nach innen geleitet werden. Erreichbare Effekte sind:
- Harmonisierung des Organismus
- Mobilisation von QI und XUE
- Beeinflußung der ZANG und FU
- Mobilisation von Gelenken
- Vertreibung von Einflüssen äußerer Agentien
- (hauptsächlich WIND, KÄLTE und NÄSSE)
- Korrektur von Fehlstellungen des Halteapparates
- Beseitigung von Schwellung und Blutstau
- Korrektur fehllaufender bzw gestauter Energie im Inneren des Körpers
- Lösen von Verklebungen an Muskeln und Sehnenscheiden
- Durchgängigmachen von Leitbahnen
Als therapeutischen Vektor differenziert man rechts- bzw. linksdrehend, längs- und querreibend, sowie streichend mit oder gegen den Leitbahnverlauf. Des weiteren unterscheidet man
- BU (tonisierend): Energie zuführend durch sanfte, langsame, langdauernde, linksdrehende Bewegungen
- XIE (sedierend): Energie ableitend durch heftige, schnelle, kurze, rechtsdrehhende Bewegungen
Mit TUI NA können alle traumatischen Vorgänge außer Knochenbrüche, Luxationen, grössere Gewebszerreißungen, sowie offene Verletzungen im jeweils akuten Stadium behandelt werden. Als grundlegende Behandlungsprinzipien gelten die vier folgenden:
- Lockern von Muskeln und Sehnen samt Durchgängigmachen der Luo-Gefässe
- Das Regeln und Korrigieren von Muskeln, Sehnen und Gelenken
- Das Blut in Bewegung setzen und den Blutstau beseitigen
- Durchgängig und schmerzfrei machen
Tui Na beinhaltet sowohl massierende als auch reponierende Manipulationen und reicht somit in den Bereich der Chirotherapie mit hinein. Es sind jedoch wie hierzulande keine gesondert zu erlernenden Methoden, sondern alle sind im Tui Na zusammengefaßt. Eine Unterscheidung ergibt sich daraus, das sich das Tui Na in seiner langen, vielgewundenen Entwicklungsgeschichte aufgrund verschiedenster akademischer Quellen, Abstammungen, Indikationen und vielschichtiger Hintergründe sozialer, provinzieller und anderer Art in verschiedene Schulen und Fachrichtungen verzweigt hat. Jede dieser Schulen legt ihren Schwerpunkt auf einige spezielle Techniken, die sozusagen die jeweilige Schule repräsentieren. Gemeinsam sind jedoch allen
- eine lange Geschichte und ihre Popularität in verschiedensten Regionen
- unterschiedliche theoretische Grundlagen, essentielle praktische Erfahrung, Sachkundigkeit in ihren Indikationsbereichen, sowie besondere vorbereitende Übungen und Methoden.
- besondere Manipulationen jede Schule, die als "hauptsächliche" oder "schulspezifische Manipulationen" neben weiteren ergänzenden Manipulationen, bezeichnet werden.
Beispielsweise sind die Manipulationen im Norden des Landes klar und kraftvoll, im Süden dagegen stilvoll und sanft. Einige bedeutende Schulen sind z.B. die Massage der Ein-Finger-Meditation, des Rollens, der inneren Übung, des Fingerdrucks, des Knochenrichtens, des Kindes, der Eingeweide und der Leitbahnen, des Sehnenzupfens und des Klatschen und Klopfens, der reponierende Manipulation, mit Salben, zur Fitneß, zur Gesunderhaltung, zur Pflege der Schönheit, usw.
Im großen und ganzen lassen sich die Tui Na-spezifischen Manipulationen in zwei Gruppen einteilen, deren Grenzen zum Teil jedoch fließend ineinander übergehen:
Gruppe der massierenden Manipulationen
1.) TUI Schieben
2.) NA Greifen
3.) AN Drücken
4.) MO Kreisendes Streichen
5.) ROU Knetend auf der Stelle massieren
6.) NIE Kneifend auf der Stelle behandeln
7.) CUO Beidhändiges Hin- und Herreiben
8.) KOU JI Klopfen und Schlagen
9.) CA Hin- und Herreiben
10.) GUN Rollend behandeln
Gruppe der mobilisierenden Manipulationen
1.) BAN Zug und Druck
2.) YAO Drehend bewegen
3.) DOU Schütteln
4.) QIA Fingernageldruck
5.) CAI Fußdruck
6.) NIAN Drei-Finger-Technik
7.) NING Zwei-Finger-Zwick-Technik
8.) BO Lautenspieltechnik
9.) BASHEN Extension
10.) GUA Schabtechnik
Im folgenden nun habe ich die Merkmale einiger der wichtigsten Tui Na-Schulen stichwortartig zusammengefaßt:
Yi Zhi Chan Tui Na: Schule der Ein-Finger Meditation
In der Ausführung sind die Techniken sanft und druchdringend, sanft und kraftvoll und kombinieren Weichheit in Verbindung mit Kraft
Herkunft:
Stammt seit der Qing-Dynastie besonders aus den Provinzen Jiang Su, Zhe Jiang und Shang Hai.
Manipulationen:
Kneten, Drücken, Reiben, Rollen, Halten und Drehen, Fegen, Foulage, schnelles Schieben, Kneten, Kreisen und Schütteln.
Indikationen:
Beschwerden der Leitbahnen und Kollateralen, des äußeren Körpers und der inneren Organe aufgrund innerer oder äußerer Ursachen. Kopfschmerz, Vertigo, Schlaflosigkeit, innere Verletzungen aufgrund von Überanstrengung, Hypertonie, unregelmässige Menstruation, Magenschmerzen, langanhaltende Diarrhö, Verstopfung, zervikale Spondylopathie, Lumbalschmerz, infantile Diarrhö und Bettnässen.
Gun Fa Tui Na: Rollende Massage
Die Techniken werden oft in Kordination mit passiven Bewegungen der Extremitäten angewendet und führen den Patienten in seiner Initiative nach der Behandlung Bewegungen auszuführen, um den kurativen Effekt zu steigern und zu konsolidieren.Es werden Punkte der Leitbahnen miteinbezogen, um Gelenke zu bewegen, Deformitäten zu korrigieren, verletzte Gewebe wiederherzustellen, und um Nervenpunkte auf der Basis der Leitbahn- und Kollaterallehre, sowie der schulmedizinischen Theorie von Anatomie, Physiologie und Pathologie zu manipulieren.
Herkunft:
Basiert auf der Ein-Finger-Massage und wurde in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt.
Manipulationen:
Kneten, Drücken, Greifen, Halten und Drehen, Foulage.
Indikationen:
Hemiparalyse, infantile Paralyse, periphere Paralyse, Abweichung von Mund und Auge, verschiedene chronische Gelenkbeschwerden, Zerrungen der Gelenkverbindungen der Taille un der vier Extremitäten, Periarthritis humeroscapularis, zervikale Spondylopathie, Lumbalprolaps, Kopfschmerz, Sternokostaler Schmerz.
Nei Gong Tui Na: Massage der inneren Übung
Die Grundlage, basierend auf der TCM-Theorie, betont das ganzheitliche Konzept und folgt damit den Prinzipien zur Stärkung der Widerstandskraft der körperlichen Abwehr gegen Krankheiten und der Eliminierung pathogener Energien ohne sie gegenseitig zu vernachlässigen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Durchgängigmachen der Leitbahnen und Kollateralen, der Regulation von Qi und Blut, sowie der Stärkung der körperlichen Widerstandskraft und der Ernährung der Eingeweide.
Herkunft:
Grundlage bilden die "Inneren Shaolin-Übungen"
Manipulationen:
Hauptsächlich Schieben mit der Handfläche (flaches Schieben, Schieben mit dem Thenar und dem Hypothenar). Weiterhin das drei und fünf Finger Greifen, Heben und Greifen, Fingerdruck, Lösen von Verklebungen, Gelenke öffnen, bogenförmiges Schieben, Bewegen, Schütteln, Foulage, Zug und Gegenzug, usw.
Die Anwendung ist kraftvoll, lebhaft, weich, durchdringend und erfüllt von typischer nordchinesischer Art. Der Behandler lenkt sein Qi im Inneren und produziert Kraft an der Außenseite. Eine weitere Betonung liegt auf der "äußeren Behandlung durch innere Übung", was bedeutet, das der Patient während der Behandlung innere Shaolin-Übungen ausführen soll, um seine Widerstandskraft zu stärken und sich gesund zu erhalten.
Indikationen:
Innere Erkrankungen aufgrund von Schwäche und Überanstrengung, sowie Beschwerden der Fachbereiche Chirurgie und Gynäkologie.
Wie erlernt man Tui Na ?
Tui Na ist in Theorie als auch in der Praxis ein bedeutsamer klinischer Fachbereich der TCM. Besonderes Gewicht erlangt diese Methode dadurch, das es in China die fachärztliche Qualifikation zum Tui Na-Doktor gibt, der sich ausschließlich dieser Methode widmet. Unter Hinzuziehung westlich-schulmedizinischer Befunde zu denen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden eindeutige und differenzierte Diagnosen erstellt, an die sich eine ebenso differenzierte Therapie anschließt. Ein Behandler der mit Tui Na arbeitet sollte deshalb grundlegende Kenntnisse der chinesischen als auch der westlichen Medizin haben, insbesondere von
- den Theorien von Yin/Yang, Wu Xing, Wei-Qi-Ying-Xue, Leitbahnen und Kollaterale, Eingeweide, Krankheitsursachen. Si Zhen, Ba Gang, Bian Zheng,
- der Theorie der TCM in Bezug auf Diagnose und Therapie auf Grundlage der allumfassenden Analyse
- der Zeichen und Symptome,
- den Verläufen der vierzehn regulären Leitbahnen und ihre Beziehungen zu den inneren Organen, Lokalisation der außerordentlichen Punkte und der speziellen Punkte zur Massage, Punktauswahl, Indikationen, Bewegungslehre, usw.
- der Theorie der Massageausführung, der Massagemanipulationen, der Grundlagen der Massage, der pädiatrische Massage,
- Anatomie, Physiologie, Pathologie, Pathoanatomie und schulmedizinische Diagnosemethoden.
Außerdem sollte er eine gute physische Kondition besitzen und geübt in der Anwendung der Manipulationen der klinischen Massage sein. In China ist es Tradition, das sich Tui Na-Meister in den traditionellen chinesischen Bewegungskünsten, wie z.B. Gong Fu, Wu Shu, Tai Ji, Qi Gong, usw. schulen, um die nötige Kraft und Gewandheit zu erlangen, die wiederum dem Tui Na zu Gute kommt.