Die diagnostische Beurteilung des Säure-Basenhaushaltes
von Michael Martin
Ein stabiler Säure-Basenhaushalt ist nicht nur Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Gesundheit in lebenden Organismen, sondern Bedingung für das Leben schlechthin. Störungen des Säure-Basenhaushaltes beruhen auf einem Mißverhältnis zwischen Bildung und Ausscheidung von Säuren und Basen. Eine entgleiste Homöostase in diesem Bereich ist mit dem Leben nicht zu vereinbaren. Die lebenswichtige Konstanthaltung der physiologischen schwach alkalischen Reaktion (ca. pH 7,36) der Gewebeflüssigkeiten erfolgt unter Beteiligung von Puffer- und Regulationssystemen, mit Hilfe derer rechtzeitig sich anbahnende Veränderungen abgefangen werden. Im wesentlichen sind die Elemente Carbonat/Bicarbonat sowie Niere und Lunge für diese Homöostase verantwortlich. Allerdings sind auch Elemente wie Zink, Mangan, Magnesium, Calcium und Kalium in die Regulation des Säure-Basenstoffwechsels involviert. Über den Urin werden wasserlösliche Säureäquivalenten ausgeschieden, über die Lunge das saure Kohlendioxid abgeatmet. Nicht nur ein Säureüberschuß (Azidose) führt zu Komplikationen, auch ein Basenüberschuß, bezeichnet als Alkalose, zieht Störungen im Zellstoffwechsel nach sich. PH-Werte, die eine bestimmte Marke nach oben oder unten überschreiten, führen zum Tod.Während in der schulmedizinisch orientierten Medizin dem Säure-Basenhaushalt nur bei schwerwiegenden, stationär behandelten Krankheitsbildern Bedeutung zugemessen wird, beschäftigt man sich in der Naturheilkunde auch bei chronischen Erkrankungen mit diesem so wichtigem Gebiet. Die Erfahrung hat inzwischen längst gezeigt, daß die Korrektur bzw. Optimierung des Säure-Basenhaushaltes zu denjenigen Maßnahmen gehört, die die Patienten oftmals stark beeindrucken, weil sie eine tiefgreifende Veränderung bzw. Besserung verschiedenster Beschwerden wahrnehmen: Müdigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Nervenschmerzen, Allergien, Karies, Sodbrennen, Muskel- und Gelenkbeschwerden, Haarausfall und viele andere Allgemeinsymptome begleiten die Gewebsübersäuerung. Mit der sog. latenten Azidose (nach Sander) wird ein Zustand beschrieben, bei dem basische Pufferreserven schon teilweise verbraucht wurden, dennoch eine Blut-pH-Wertveränderungen noch nicht eingetreten ist. Dabei geht es also niemals um azidotische Entgleisungen, die sich im Blut-pH nachweisen lassen. Ein solches Phänomen wäre bereits Ausdruck einer bedrohlichen Situation, die mittels Bicarbonat-Infusionen behandelt werden muß. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die korrekte Untersuchung des Blut-pH-Wertes nur im arteriell entnommenem Blut möglich ist, welches unmittelbar nach der Entnahme untersucht wird. Die Blut-pH-Messung in venösen Blutproben, via Postweg an das Labor versandt, ist als grober Unfug zu bezeichnen, da die Stoffwechselvorgänge, die sich in der Blutprobe noch längere Zeit abspielen, den pH-Wert empfindlich beeinflussen bzw. verfälschen. Darüber hinaus erfassen wir mit dem Blut-pH lediglich den Extrazellulärraum.
Was stehen uns nun in der Praxis für Möglichkeiten zu Verfügung, um bei unseren chronisch kranken Patienten zu einer korrekten Beurteilung der Säure-Basen-Homöostase zu kommen? Die alleinige pH-Wert-Kontrolle des Urins bietet nur sehr grobe Orientierungsmöglichkeiten, da zu viele Unbekannte wie z.B. die Harnmenge, keine exakte Aussagen zulassen.
Die Säure-Basen-Titration nach Sander
Ein Pionier auf dem Gebiet des Säure-Basen-Stoffwechsels war Friedrich Sander, der bereits 1953 eine diagnostische Methode zur Erfassung des Säure-Basen-Haushaltes beschrieb, die auf der Bestimmung der Pufferkapazität des Harns anhand eines Tagesprofils basiert. Dazu müssen die Patienten um 6.00, 9.00, 12.00, 15.00 und 18.00 eine Urinprobe abfüllen. In den Harnproben werden zunächst mittels einer Elektrode die pH-Werte bestimmt. Nach Zugabe von Salzsäure zum Ansäuern der Proben werden durch nacheinandergeschaltete Titration* mit basischen (NaOH) und sauren (HCL) Substanzen die Meßzahlen für die Pufferkapazitäten (Aziditätsquotient = AQ-Werte) der Harnproben im sauren und basischen Bereich bestimmt. Hieraus wird ein Index als Maß für die gesamte Pufferkapazität des Harns berechnet, so daß bei dieser Methode nicht nur die pH-Werte festgestellt werden, sondern auch ein Maß für die noch vorhandene Regulationskapazität ermittelt wird. Die Ergebnisse werden in Form eines Tagesprofils dargestellt.
*quantitative Bestimmung eines in einem Medium enthaltenen Stoffes.
Beim Gesunden sind die folgenden Rhythmen zu erkennen:
Im 6-Uhr-Urin werden die im Stoffwechsel zur Nacht anfallenden Säuren ausgeschieden. Unter physiologischen Umständen gibt es in Abhängigkeit von den Mahlzeiten etwa 2-3 Stunden postbrandial eine sog. Basenflut, die sich so nach dem Frühstück - am Testtag etwa im 9-Uhr-Urin - nachweisen läßt. Die durch die Stoffwechselvorgänge anfallenden Säuren scheidet die Niere ungefähr zur Mittagszeit aus. Mit einer zweiten Basenflut kann gegen 15.00 gerechnet werden, nun bedingt durch die Mittagsmahlzeit. Gegen 18.00 zeigt sich wieder eine Säure-Überschuß, der sich durch die Stoffwechselvorgänge erklären läßt und somit keinesfalls als Übersäuerung zu werten ist. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß irrtümlicherweise oftmals versucht wird, den Urin kontinuierlich basisch zu halten, weil die wichtige Bedeutung einer Säureflut falsch interpretiert wird! Bei Patienten mit einem gestörten Säure-Basenhaushalt, fehlen die Rhythmen zwischen basisch und sauer.Mit der Säure-Basen-Titration nach Sander, im Laboratorium Dr. Bayer leicht modifiziert, seht dem Praktiker ein kostengünstiges und vor allem sehr aussagekräftiges Testverfahren zur Verfügung, welches zuverlässige Einblicke in die Homöostase des Patienten erlaubt. Die praktische Erfahrung im Umgang mit dem Test hat eindrucksvoll gezeigt, daß bei einem hohen Prozentsatz unserer chronisch kranken Patienten eine derart massive Gewebsübersäuerung vorliegt, daß initial nicht selten Natrium-Bicarbonat-Infusionen indiziert sind, um überhaupt Bewegung in die Entsäuerung zu bringen. Die häufig praktizierte Methode, 1x täglich ein Basensalz zu verabreichen, wäre bei solchen Patienten ein Tropfen auf dem heißen Stein und würde bezüglich der Bedeutung der Säure-Basenproblematik zwangsläufig enttäuschen.
Neben der Untersuchung der Pufferkapazitäten des Urins ist - vor allem bei pathologischen Testergebnissen - ein Mineralstoff-Screenning im Vollblut empfehlenswert, bei der insbesondere die oben bereits genannten Elemente Zink, Kalium, Magnesium und Calcium eine besondere Rolle spielen. Bei vielen Patienten lassen sich an Hand der nun vorliegenden Untersuchungsergbenisse Zusammenhänge zwischen Mikronährstoff-Defiziten und gestörter Säure-Basen-Regulation erkennen. So können einerseits z.B. therapierefraktäre Zink- Magnesiumdefizite durch das Ergebnis der Säure-Basen-Titration eine Erklärung finden, anderseits die therapeutische Entsäuerung durch die Beseitigung rechtzeitig erkannter Defizite optimiert werden.
Anschrift des Verfassers:
Michael Martin
Schöne Aussicht 14
65232 Taunusstein
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