Spagyrische Gedanken (III)
Zaunrübe und Zirkusluft - oder Sag' mir wie die Heilung riecht
Als einst Hahnemann der Gedanke kam, einen Kranken an einer seiner Potenzen nur riechen zu lassen, um ihm die ersehnte Heilung zu schenken, da war ihm unklar, welcher Art osmologischer Funke da auf die Rezeptoren des Riechorgans überspringen sollte. Den Homöopathen an der Schwelle zum 3. Jahrtausend ist es dies heute noch. Und wohl wenige werden diese Art "Hahnemannismus" praktisch nutzen. Ich persönlich kenne keinen. Ein Schnupperversuch an Bryonia C 30 endet ernüchternd.
Meine Riechzellen melden den allbekannten Duft von Ethanol an die Zentren unter der Schädeldecke. Dies bleibt die einzige Reaktion. Geduldiges Abwarten (entspannt auf dem Sofa liegend) entlockt meinem Organismus keine weiteren Antworten. Kann er denn auch antworten? Bin ich momentan wirklich "bryoniakrank"? Meine linke Gehirnhälfte bricht das Experiment ab. Die rechte aber fragt nach, und die Nase bleibt neugierig.
Da fällt mein Blick auf ein Fläschchen auf dem Schreibtisch, das ebenfalls den Namen der Zaunrübe trägt. Aber es ist keine Potenz, es ist eine Urtinktur, noch dazu eine spagyrische: Bryonia Δ spag. Zimpel. Was wohl sagen die Riechrezeptoren zu diesem Wässserchen? Vorsichtig führe ich die geöffnete Flasche zur Nase. Schnell zeigt sich, daß diese Vorsicht berechtigt ist. Als die ersten "spagyrischen Düfte" sich in der Nasenhöhle ausbreiten, zieht ein, natürlich unbeherrschbarer, Reflex das Fläschchen ruckartig von meinem Gesicht weg und die Nase sucht , sich schnell in die Höhe reckend, das Weite. Was war bloß das?
Was war das für ein fremdartiger Duft, der mir da in die Nase stieg? Im Gegensatz zum Versuch mit der C-30-Potenz wurde die Neugier jetzt erheblich gesteigert. Mit hellwachen Riechzellen und noch größerer Vorsicht werden die Riechexperimente mehrmals wiederholt, bis sich die Düfte ohne Gegenwehr tief inhalieren lassen. Und sie lassen mich in ihrer ganzen Fremdartigkeit nicht mehr los. Welchen Geist habe ich da nur aus der Flasche geholt?
Nein, wie ein Rosengarten riecht diese Pflanzenessenz wahrlich nicht, aber interessant. An war erinnert sie mich? Nach dem sich die Abwehr gegen diesen Geruch gelegt hatte, kommen die ersten Assoziationen. Und die verblüffen mich: Da tritt das Bild einer Manege vor mein inneres Auge. Weiße Pferde ziehen schnaubend ihre Bahn. Dann die Löwen im Käfig. Peitschenknallen. Zähnefletschen. Drohende Pranken. Zirkusluft. Der Duft der spagyrischen Zaunrübenessenz hat mich in den Zirkus versetzt. Und in der Tat: Die Essenz riecht stark animalisch. Das war die Erklärung. Doch warum kam mir gerade das Bild einer Manege? Warum nicht das eines Hühnerstalls oder das einer Pferdekoppel? Da ging das Assoziieren weiter, jetzt mehr rational.
Das homöopathische Arzneibild zeigt Bryonia als einen recht cholerischen Typen, zumindest als nicht gerade "pulsatilla-like". Aggression im weitesten Sinne zieht sich durch das Bild: Reizbarkeit, Entzündlichkeit, heftige Schmerzhaftigkeit. Werden der Freiheit Grenzen gesetzt, dann kommt die große Rebellion: Schmerz macht das Fortschreiten unmöglich, verhindert das freie Ausatmen, verdammt zur Unbeweglichkeit. Gerade die sercisen Häute zeigen sich als beliebte Schlachtfelder: Pleuritis, Synovitis, Peritonitis gehören zu den Hauptbereichen der therapeutischen Wirkung der Zaunrübe. Jene Häute also, die z.B. Organe nach außen abgrenzen, ihnen Grenzen geben. Hier entzündet einer das Feuer und liegen Mars und Saturn im Clinch.
Und während mir all dies durch den Kopf schießt, entführt mich ein tiefer Atemzug am spagyrischen Essenzfläschchen wieder in das Zirkusrund. Da sitze ich vorn in der ersten Reihe, und federbeschmückte Schimmel traben heftig schnaubend und mit gesenktem Kopf ganz nah an mir vorbei, immer im Kreis. Die Manege gibt die sichere Grenze. Und immer weiter verbinden sich Bilder und Gedanken in meinem Kopf: Der Zirkus - die gezähmte Wildheit - der Ort, wo Grenzen und Freiheitsdrang aufeinandertreffen, wo die beiden Gegensätze sich zu einer neuen Qualität transformiert haben, sich nicht bekämpfend, sich vielmehr ergänzend. Mars und Saturn bei der Arbeit am gemeinsamen Ziel.
Da hat mir also diese spagyrische Urtinktur aus der Zaunrübe "riechenderweise" etwas über sein Arzneibild mitgeteilt. Vielleicht noch mehr als nur über das? 4Vo kommen diese seltsamen spagyrischen Düfte her? Eine Zaunrübe riecht doch nicht nach Zirkus? Die Düfte entfalten sich im spagyrischen Prozeß der Essenzherstellung. Sie entstehen, während die Pflanze ins Chaos zurückfällt, während sich im Gärprozeß ihre Strukturen auflösen, um anschließend mittels Destillation und Kalzination transformiert und in der Konjugation neu strukturiert zu werden. Es ist der Duft der Transformation, es ist der Duft des Phönix.
Und so sehen die Riechexperimente weiter. Und das Assoziieren auch:
- Asarum - der indische Tempel,
- Echinacea - wo Milch und Honig fließen,
- Sempervivum - am erloschenen Feuer,
- Colchicum - eine Brise Kölnisch Wasser, ,
- Pirus malus - am Morgen nach dem Fest, ,
- Agnus castus - in schwülen Nächten,
- Lilium album - ...
Mir scheint, als müßte ein Schatz gehoben werden.
Spagyrische Gedanken (IV)
Schnee von gestern für die Winter von morgen - oder Zauberlehrling, reiß die Fenster auf!
"Spagyrik? Ach, kalter Kaffee!", sprach's, presste der Patientin die Elektroden in die Hand, ordneten den Kabelsalat und ließ den Computer starten. Na das ist doch was: Balken, Diagramme, Lämpchen, Piepser, Druckersummen und die Diagnose schwarz auf weiß. Desgleichen Ritual bei der Therapie. "Spagyrik? Schnee von gestern!". Schon war: Wer interessiert sich für so etwas Seltsames wie die Spagyrik in Zeiten der Computer-Naturheilpraxen? Esoterik-Fans vielleicht, oder Bach-Blüten-Tussis, die des Bekochens müde geworden sind, oder jene Zauberlehrlinge, die noch immer der Macht des Steins der Weisen nachjagen und sich im Besitz der letzten Wahrheiten wähnen. Jedenfalls muß der, der sich ernsthaft mit Spagyrik beschäftigt, irgendetwas Obskures an sich haben. Sie meinen, das wäre alles nur ironisch-satirisch gemeint? Teilweise, nur teilweise. Es spiegelt nämlich - wenn vielleicht auch etwas überzeichnet - die Realität wider. Der Grund, warum man in Therapeutenkreisen der Spagyrik nur wenig Seriöses zubilligt, liegt zum überwiegenden Teil an jenen selbst, die die Spagyrik vertreten und betreiben. So mancher geht da, mit dem Mantel des Allwissens umgeben, auf Bekehrungstour und predigt von der einzig wahren Alchemie, nein Alchimie, nein Alchymie... Das Sprechen in Rätseln, ganz in alter alchemistischer Tradition, wird zum Sport und der mitgeführte Weihrauch hat nur dem Räuchernden selbst zu dienen. Oh Heiliger Theophrast Bombast, wo sind nur deine Ketzer geblieben?
Ketzer, richtige, von der Spagyrik zutiefst überzeugte Ketzer, die würden uns sicher gut tun. Solche, die den Mut haben, die Fenster der alten Laboratorien aufzureißen, um dem Meister einmal zu zeigen, daß auch das Sonnenlicht wärmt und nicht nur jenes, das seine ewig lodernde Feuerstelle abgibt. Nun flieht so mancher Alchemist das Sonnenlicht wie der Teufel das Weihwasser. Vielleicht tut er das aus Angst, aus Angst, seine alchemistischen Wahrheiten könnten das Weite suchen wie der Kanarienvogel, an dessen Käfig das Türchen offensteht.
Ich meine, diese Angst ist unberechtigt. Da geht weniger hinaus, als daß hineinkommt. Frische Luft nämlich, der Duft der Kirschblüte, der Gesang der Nachtigall, das "Alle meine Entchen" von Nachbars Lisa. In manchen alchemistischen Augen sind solche Gedanken ein Sakrileg. Da geht es doch nicht um irgendetwas, da geht es um uralte ewige Wahrheiten, die nur Eingeweihten zugänglich waren und sind. Das zieht man nicht in den Schmutz!
Nun habe ich gewiß nicht die Absicht, Perlen vor die Säue zu werfen. Vielleicht sollte man die Perlen, die solange in der Schatztruhe lagen, einfach nur mal frisch polieren, damit sie neuen Glanz bekommen. Das aber kann man, so wird mir jeder zustimmen, nur am Licht. In der Spagyrik begann so ein Aufpolieren in den 80er Jahren mit dem Kollegen, Philosophen, Mathematiker und runenwerfenden Poeten Ulrich Jürgen Heinz, einer schillernden Figur und ewig ruhelosen Geist. Ihm ist es zu verdanken, daß der Begriff Spagyrik aus Eingeweihtenkreisen herauskam und allgemein bekannt wurde. Beim Lesen seiner Theorien zur Spagyrik mag jedoch so mancher traditionsbewußte Jünger des Hermes Trismegistos seine Kleider zerrissen haben wie einst Kaiaphas im alten Jerusalem. Die Gemüter haben sich mittlerweile beruhigt. Heinz spricht bei seinem Heilverfahren schon gar nicht mehr von Spagyrik, sondern nennt es nun "Cluster-Medizin". Heinz stiftete Verwirrung, aber auch Interesse. Viele kamen durch ihn erst zur Spagyrik, so auch ich. Ich muß ehrlich gestehen, daß seine hochwissenschaftlichen Thesen es schwer hatten in meinen gemeinen Gehirnwindungen eine Heimstätte zu finden, aber der Anstoß war gemacht. Ähnlich erging es manch anderen.
Pharmafirmen endeckten dieses alte Heilverfahren neu, traditionelle Spagyrikhersteller wagten den Schritt in die Öffentlichkeit. Aber der Hauch des Okkulten blieb. Lag's daran, daß wenn über Spagyrik geredet wurde, mehr von den Planetenkräften, dem Uroboros oder dem großen und dem kleinen Werk die Rede war, als von menschlichem Leid, seelischem Schmerz und körperlichem Gebrechen jener, die zu uns als Patienten kommen? Ich wage kein Urteil.
Mir liegt nicht daran, das Bad ohne das Kind auszuschütten. Oder nicht einmal auszuschütten, vielleicht nur etwas warmes Wasser nachzugießen. Perlen bei Sonnenlicht betrachtet, bleiben Perlen, sie sehen nur etwas anders aus. Spagyrik bleibt Spagyrik, auch wenn man sie von einer anderen, ungewohnten Seite aus anschaut. Und Wahrheiten bleiben Wahrheiten, auch wenn im Licht der heutigen Zeit noch ganz andere zu entdecken sind. Zu guter Letzt: Wer ist ein wahrhaft großer Geist? Der, der sich selbst bewußt in Frage stellen kann. Wenn die heutigen Alchemisten und ihre Zauberkünstler hierzu in der Lage sind, dann hat ihr eigener Transformationsprozeß Erfolg gehabt. Und dann mag die Spagyrik - in all ihren Formen - eine bedeutsame Rolle im medizinischen Gebäude der Zukunft spielen. Wenn der Klimaumschwung immer weiter geht und die kalten Jahreszeiten immer wärmer werden, dann wird man vielleicht einmal froh sein über den Schnee von gestern für die Winter von morgen.
Anschrift des Verfassers:
Hans-Josef Fritschi, Heilpraktiker
Karl-Bromberger Straße 5
78183 Hüfingen
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