Die Behandlung einer Migräne
von Gerd Aronowski
Die Migräne kann sehr unterschiedliche Krankheitsmechanismen haben. Für die homöopathische Behandlung ist jedoch nicht so sehr die Pathophysiologie der Erkrankung entscheidend, sondern eine genaue Erforschung des Beschwerdebildes samt der Begleitumstände, Auslöser und Modalitäten.
Obwohl die Homöopathie in einigen veröffentlichten Studien, die durchgeführt wurden, kaum Erfolge bei der Behandlung der Migräne verbuchen konnte, sehe ich immer wieder hervorragende Resultate. Ich möchte deshalb behaupten, daß die Homöopathie ausgezeichnet dazu in der Lage ist bei der Migräne Heilungen zuwege zu bringen. Der Erfolg einer homöopathischen Therapie, egal welcher Krankheitsform, hängt dabei jedoch immer von mehr als dem Auffinden einer geeigneten Arznei ab. Hierzu der § 3 der 6. Organonauflage Hahnemanns:
"Sieht der Arzt deutlich ein, was an Krankheiten, das ist, was an jedem einzelnen Krankheitsfalle insbesondere zu heilen ist (Krankheits-Erkenntniß, Indication), sieht er deutlich ein, was an den Arzneien, das ist an jeder Arznei insbesondere, das Heilende ist (Kenntniß der Arzneikräfte), und weiß er nach deutlichen Gründen das Heilende der Arzneien dem, was er an dem Kranken unbezweifelt krankhaftes erkannt hat, so anzupassen, daß Genesung erfolgen muß, anzupassen sowohl in Hinsicht der Angemessenheit der für den Fall nach ihrer Wirkungsart geeignetsten Arznei (Wahl des Heilmittels, Indicat), als auch in Hinsicht der genau erforderlichen Zubereitung und Menge derselben (rechte Gabe) und der gehörigen Wiederholungszeit der Gabe:- kennt er endlich die Hindernisse der Genesung in jedem Falle und weiß sie hinwegzuräumen, damit die Herstellung von Dauer sei: so versteht er zweckmäßig und gründlich zu handeln und ist ein ächter Heilkünstler."
Hahnemann spricht in diesem Paragraphen also neben dem Auffinden des Similimums noch davon, daß die Gabe (worunter Hahnemann ungeachtet ob C- oder Q-Potenz zu diesem Zeitpunkt immer die Arzneidosis, also die eingenommene Arzneimenge verstand) dem Krankheitsfall angepaßt sein muß. Ich möchte darauf hinweisen, daß die Gesetzmäßigkeiten der Dosierung, die Hahnemann in seinem Organon in verschiedenen Paragraphen noch näher ausführt bei der Behandlung jeder Krankheit von großer Bedeutung sind und darüber mitentscheiden ob eine Behandlung selbst bei richtig gewähltem Mittel erfolgreich oder erfolglos verläuft.
Hahnemann spricht ebenfalls noch davon, daß das Auffinden und Beseitigen von Störfaktoren notwendig ist um eine Heilung herbeizuführen. Im Falle der Migräne liegen die Störfaktoren nicht selten im übermäßigen Kaffeegenuß, dem unkontrollierten (!) Gebrauch von Schmerzmitteln und in der zum Teil langjährigen Einnahme von Kontrazeptiva.
In Fällen, in denen eine vollständige homöopathische Heilung bei der Migräne nicht möglich ist, können wir häufig immerhin eine deutliche Besserung der Beschwerden, damit eine Besserung der Lebensqualität und eine drastische Reduktion von Schmerzmitteln erreichen. In manchen Fällen werden wir auch keine befriedigenden Resultate erzielen und die Patienten anderen Therapien, wie zum Beispiel manuellen Verfahren zuweisen. Diese Fälle sind aber eher die Ausnahme als die Regel.
Die Behandlung im vorliegenden Fall ist noch nicht abgeschlossen, aber das bisherige Resultat ist immerhin ein 10-monatiges beschwerdefreies Intervall der Migräne und der Rückgang vieler anderer Beschwerden. Es handelt sich um eine 45-jährige, alleinstehende Patientin. Sie ist von Beruf Sozialarbeiterin, und kam hauptsächlich mit der Zielsetzung in Behandlung dem Rezidiv einer gerade durchgemachten Sinusitis vorzubeugen. Ich erhob bei der Fallaufnahme folgende Diagnosen:
- Migräne
- präklimakterisches Beschwerdebild
- Lichtdermatose
- abklingende Sinusitis
Erste Eindrücke und Sichtbefund
Die Patientin ist 1,70 m groß, vollschlank, hat dunkle Haarfarbe. Die Gesichtshaut war unrein und wirkte angeschwollen. Die Patientin machte einen ruhigen und eher introvertierten Eindruck.
Spontanbericht (im Mai 98)
In den Wintermonaten hatte die Patientin eine Sinusitis maxillaris mit massiven Schmerzen in der linken Gesichtshälfte durchgemacht, die sich vor allem in der linken Wange festsetzten und von intensiven Zahnschmerzen kaum zu unterscheiden waren. Sie berichtete, daß sie als Kind mit 7 Jahren schon einmal eine Sinusitis hatte, die eine monatelange Fazialisparese der linken Gesichtshälfte nach sich zog. Der jetzige Zustand hatte sie sehr an früher erinnert und viele Ängste ausgelöst. So zum Beispiel, daß sie nicht mehr gesund werden würde und ihr niemand helfen könne. Daraufhin wurde sie in den Wintermonaten antibiotisch behandelt, was schnell zu einem Rückgang der Schmerzen führte. Zum Zeitpunkt der Fallaufnahme klagte sie nur noch über geringfügige Beschwerden, wollte aber einem möglichen Rezidiv vorbeugen.
Gelenkter Bericht
In Bezug auf die vorausgegangene Sinusitis berichtete die Patientin noch, daß ihre Menstruation ein viertel Jahr vor Ausbruch der Erkrankung ausgesetzt hatte. Kurz bevor die Sinusitis im Rahmen eines grippalen Infektes dann ausbrach, setzte die Menstruation mit einer drei Wochen lang anhaltenden Menorrhagie mit starkem Blutverlust wieder ein. Die Schmerzen der Sinusitis besserten sich in der akuten Phase, wenn sie sich nach vorne beugte, waren aber nie ganz weg und zum Teil so unerträglich, daß sie den Gedanken hatte vielleicht daran "sterben zu müssen". Unter der antibiotischen Therapie wurden die Schmerzen allmählich besser und verschwanden dann. Zurück blieb das Gefühl eines Krankheitstraumas, wie wir dies bei so manchem Patienten nach ähnlich intensiver Erfahrung beobachten können.
Migränesymptomatik
Während der Anamnese berichtete sie, daß sie unter einer langjährigen Migräne litt und immer noch leide. Kopfschmerzen hatte sie schon als Kind. Mit 17 Jahren gingen die Schmerzen dann in eine Migräne über. Damals wurden die Migräneanfälle durch Rauchen, durch Schlafmangel und Alkohol hervorgerufen. Los ging es immer morgens mit einem "bösen Erwachen", wie sie ihre Migräneschmerzen beschrieb. Seit einem Arbeitsplatzwechsel vor 8 Jahren hatte sich die Migräne gesteigert. Die Patientin betreute seither eine Gruppe schwererziehbarer Jugendlicher und betonte, daß dies mit viel "Psychostreß" verbunden war. Seither litt sie in schlechten Zeiten wöchentlich oder vierzehntägig unter Migränekopfschmerz, der einen oder auch zwei Tage anhalten konnte. Sie fühlte sich dabei jedes mal "sehr krank" und war nicht arbeitsfähig. Daraufhin reduzierte sie ihre Beschäftigung auf ein Teilzeitarbeitsverhältnis, was zu einer leichten Besserung der Kopfschmerzsymptomatik führte. Die Beschweren kamen nun in unregelmäßigen Abständen etwa alle 3 - 4 Wochen.
Aktuelles Beschwerdebild zum Zeitpunkt der Erstkonsultation:
Vorzeichen der Migräne
Den Kopfschmerzen gingen jedesmal diskrete Befindensstörungen voraus. So empfand sie helles Licht als unangenehm, Wind verursachte eine Berührungsempfindlichkeit der Kopfhaare, sie konnte keine lauten Geräusche ertragen und hatte allgemein das Bedürfnis sich zurückzuziehen.
Beschwerden bei der Migräne
Die Beschwerden begannen immer als einseitiger Kopfschmerz, der zuerst pochenden Charakter hatte. Dann ging der Schmerz auf den ganzen Kopf über und war krampfartig oder so als ob der Kopf bersten würde. Ab einer gewissen Intensität der Schmerzen wurde dieser im ganzen Körper empfunden. Der Kopfschmerz begann zwar einseitig, aber bevorzugte weder die rechte noch die linke Kopfseite. Die Kopfschmerzen wurden häufig ausgelöst durch "Streß auf der Arbeit", durch langes Ausschlafen und ebenso durch Schlafmangel, nach Alkoholgenuß, den sie jedoch vermied, vor der Menses und bei Föhnwetter. Im Frühjahr, Sommer und Herbst litt sie häufiger unter Migräneanfällen, im Winter hatte sie weniger Beschwerden. Zu Beginn des Urlaubs (wenn sie zur Ruhe kam) häuften sich die Anfälle ebenfalls.
Die Migräne wurde von Übelkeit bis zum Erbrechen, Lichtempfindlichkeit und Geräuschempfindlichkeit begleitet, so daß die Patientin das Bedürfnis hatte allein zu sein und sich hinzulegen.
Unterleibsbeschwerden
Die Menses kam die letzten Monate in sehr unregelmäßigen Abständen, zumeist waren die Intervalle deutlich zu lang, bis zu 8 Wochen. Der Blutfluß war aber in der vergangenen Zeit stärker geworden, als sie das sonst gewohnt war (davor alle 28 Tage, schwache Blutung). Die Menarche setzte mit 15 Jahren ein. Vor der Regel hatte sie ein schlechtes Allgemeinbefinden.
Weitere Beschwerden
Die Patientin klagte über diverse Hautbeschwerden. Seit 20 Jahren hatte sie eine Sonnenallergie, die sich besonders auf den Handrücken mit Bläschen bemerkbar machte und die bei starker Sonneneinstrahlung schon im Frühjahr begann und den ganzen Sommer bestehen blieb. Gelegentlich litt sie unter sporadisch auftretender Nesselsucht im Halsbereich und an Ekzemen der Schienbeine. Seitdem die Monatsregel in unregelmäßigen Abständen kam, litt sie unter ödematösen Wassereinlagerungen im Bereich der Gesichtshaut, der Handgelenke und der Fußknöchel, was mit unangenehmem Spannungsgefühl verbunden war. Im Bereich des behaarten Kopfes trat phasenweise intensive Kopfschuppenbildung auf. Seit 20 Jahren hatte sie einen Genitalherpes, der vor allem während der Menses auftrat.
Von der Seite des Gemüts her bestand zum Teil Neigung zur depressiven Verstimmung, teilweise auch zur Gereiztheit. Wenn sie sich ärgerte, so konnte sie diesen selten äußern und behielt ihn für sich. Morgens nach dem Schlaf fühlte sie sich immer müde und unausgeschlafen.
Chronologischer Bericht
Seit der Kindheit Kopfweh. Mit 7 Jahren Fazialislähmung links mit Vollremission nach 1/2 Jahr. Ab dem 17. Lebensjahr Migräne. Vom 20. bis 35. Lebensjahr häufige Anginen. Mit 45 Jahren Sinusitis und Mensesunregelmäßigkeiten.
Familienanamnese
Die Mutter hatte einen Herzinfarkt und litt unter Katarakt.
Der Vater litt ebenfalls unter Kopfschmerzen, Sinusitiden und rheumatischen Beschwerden.
Ein Bruder leidet an Poliarthritis.
Repertorisation
Die Analyse des Falls geschah durch die Repertorisation (nächste Seite)
Behandlung und Verlauf
Therapie (Beginn Ende Juni 1998)
Lachesis Q3 1 Globulus in 40 ml Ethanol 20 %.
Davon 3 Tropfen auf ein mit 200 ml Leitungswasser gefülltes Glas. Davon 1 Meßlöffel = 5ml in ein zweites mit Wasser gefülltes Glas übertragen.
Davon war täglich 1/4 Meßlöffel einzunehmen, die Arznei war vor jeder weiteren Einnahme 10 mal kräftig zu schütteln. Verlauf und Therapie (Anfang Juli)
Nach der zweiten Gabe Lachesis setzte die 14 Tage verspätete Menses ein. Die Schwellungen im Gesicht und an Händen und Knöcheln gingen deutlich zurück. Es war unter der Anfangsdosierung kein Migräneanfall aufgetreten. Warum ich die Anfangsdosierung so vorsichtig wählte: ich wollte in jedem Fall eine Verschlechterung der Kopfschmerzsituation vermeiden. Lachesis gehört zu einem der potentesten Arzneimittel unserer Materia medica, wenn es nicht sogar die Arznei ist, bei der Überdosierungen am nachhaltigsten Beschwerden machen. Hering wurde nach der intensiven Prüfung dieses Mittels Zeit seines Lebens nie mehr ganz frei von Lachesissymptomen. Vorsichtig dosiert und dem Fall individuell nach Rezeptivität und Heilungsgrad des Patienten angemessen, braucht man jedoch keine Angst vor dem Einsatz dieser Arznei zu haben.
Therapie erfolgte weiter mit Lachesis in ansteigenden Potenzen wie oben beschrieben aus dem zweiten Glas. Die Einnahmemenge wurde auf bis zu einen Meßlöffel gesteigert.
Verlauf und Therapie (Juli 98 / nach einem Monat Behandlung)
Es bestand eine leichte Sonnenallergie. Die Stimmung war viel besser als vor der Therapie. Sie sagte, daß sie dem Alltagsstreß nun viel mehr gewachsen war. In den Träumen kamen alte Erinnerungen aus der Kindheit los und hinterließen ein "Loslaßgefühl". Verlauf und Therapie (August 98 / nach zweimonatiger Behandlung) Die Patientin hatte Anfang August einen Migräneanfall, welcher aber nicht so heftig war, wie sie das sonst kannte. Im August traten sogar mehrere kleine Migräneanfälle auf, die aber in ihrer Schmerzintensität nicht mehr mit denen vor der Behandlung zu vergleichen waren. Sie bestärkte nochmals, daß die Anfälle auch in den vergangenen Sommern bei heißer Witterung gehäuft aufgetreten waren. Die Ödeme waren zu diesem Zeitpunkt ganz verschwunden. Die Sonnenallergie war trotz enormer Hitze ebenfalls nicht mehr vorhanden. Die Stimmung war insgesamt gut. Sie sagte: "Seit der Behandlung habe ich mehr Boden unter den Füßen und ich kann auch Gefühle wie Haß, Eifersucht und Neid besser annehmen und verarbeiten." Mitte August setzte dann eine dreiwöchige Menorrhagie ein und die Arzneieinnahme wurde sicherheitshalber ausgesetzt um eine Arzneimittelüberdosierung auszuschließen. Aus der Retrospektive betrachtet war dies jedoch keine Wirkung, die der Arznei zuzuschreiben war, welche die Patientin bis dahin aus dem zweiten Glas eingenommen hatte, sondern ein Zeichen ihrer noch mangelhaften Wiederherstellung. In Zweifelsfällen ist es jedoch besser die Arznei auszusetzen, um die Beurteilung des Krankheitsverlaufes nicht unnötig zu verkomplizieren.
Verlauf und Therapie (September 98/ nach dreimonatiger Behandlung)
Die Blutung (mittelstarke Menorrhagie) hörte nach drei Wochen auf. Der Allgemeinzustand war danach sogar ausgesprochen gut und die Patientin beschrieb, daß sie unternehmungslustiger geworden war und die Stimmung gut war.
Therapie: Lachesis Q6 1 Tropfen der Arzneiauflösung in 200 ml Wasser und aus diesem Glas wurde dann bis zu 1/2 Meßlöffel eingenommen.
Weiterer Verlauf (Zustand im Mai 99 nach ca. einjähriger Behandlung) In der Folgezeit kam es zu keinem weiteren Migräneanfall. Lachesis wurde bis zum Mai 99 bis zur Q16 eingenommen, inzwischen vertrug die Patientin eine deutlich größere Dosis der Arznei. Die Menses erschien von nun ab in sechswöchigem Abstand und war wie früher eher wieder schwach. Der Gynäkologe stellte einen Gestagenmangel fest und sah die Mensesverzögerung im Rahmen des sich anbahnenden Wechsels, der bei einer 46-jährigen Frau heutzutage nichts ungewöhnliches ist. Die Ödeme bildeten sich zurück, die Sonnenallergie ist bis zum heutigen Tage nicht mehr aufgetreten. Die gefürchtete Sinusitis wiederholte sich im Winter nicht, obwohl die Patientin wiederholt erkältet war. Der nähere Verlauf ist dem Verlaufskontollbogen zu entnehmen.
Restbefund und geplantes Vorgehen
Die Patientin ist, was ihre Migräne betrifft, in der Zwischenzeit 10 Monate lang beschwerdefrei.
In letzter Zeit war der Herpes Genitalis bei der Menses verstärkt aufgetreten. Vor der Menses sei sie zur Zeit gereizt und traurig zugleich. Beiläufig erzählt sie, daß sie zur Zeit ein ausgesprochenes Salzverlangen habe.
In der nächsten Zeit werde ich mich nach genauer Überprüfung des Sachverhaltes wahrscheinlich bei dieser Patientin für Natrium muriaticum als nächstes Heilmittel entscheiden, welches auch in der vorliegenden Auswertung schon als zweites Mittel auffällt und welches zu den Restbeschwerden sehr gut paßt. Bei der Behandlung chronischer Krankheiten macht uns Hahnemann ja im Paragraphen 171 darauf aufmerksam, daß zur Heilung einer chronischen Krankheit oft mehrere hintereinander folgende Arzneien notwendig sind.
Literaturverzeichnis:
Hahnemann, S., Organon der Heilkunst, 6. Auflage, Haug, Heidelberg, 1991
CompRep ML1 Homöopathie-Software, Simbürger, F., 1999
Hering, C., Medizinische Schriften, hrsg. v. Gypser, K.H., Burgdorf, 1988
Anschrift des Verfassers:
Gerd Aronowski
Uhlandstraße 8
78464 Konstanz
Diese Informationen und Veranstaltungshinweise
finden Sie auch in der Zeitschrift Naturheilpraxis des Pflaum-Verlages:
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