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Die Weide lieferte Salicylsäure. Der Mensch machte Aspirin.
Ein Medikament wird hundert Jahre alt

"Das Jahrhundert-Pharmakon, ein Rekord in Medizin- und Arzneimittelgeschichte", schreibt Uwe Zündorf in research Nr.9 (Februar 1997), dem Bayer-Forschungsmagazin. Fürwahr ein Wunder, denn oft genug sind Medikamente, wenn sie aus der Retorte kommen, bald überholt, durch bessere ersetzt, werden nicht mehr produziert.
Aspirin ist eine Ausnahme. Und die Pflanze war das Vorbild. Nach wievor ist das bekannte Mittel ein Verkaufsschlager,
und dem in ihm enthaltenen Wirkstoff, der übrigens auch in anderen Medikamenten vorkommt, werden immer mehr Indikationen zugeschrieben. Sie reichen heute von Schmerzen, Fieber und Erkältungskrankheiten über Rheuma und Höhenkrankheit bis zu Herzinfarkt und Schlaganfall. Außerdem soll nach neuesten Untersuchungen die Häufigkeit des Dickdarmkrebses verringert werden. Wie es zu diesem Arzneimittel kam, ist eine lange Geschichte. Sie soll hier kurz gebracht werden.

Die Silberweide (Salix alba) und auch andere Weidenarten wurden früh als wichtige Heilpflanzen erkannt. So verordnete schon um 400 v. Chr. Hippokrates einen Aufguß aus der Rinde dieses Baumes gegen Gelenkentzündungen.
Im ersten Jahrhundert n. Chr. wies Dioskorides auf die adstringierende Wirkung der Weide hin. Die Anhänger der Signaturenlehre des Mittelalters benutzten Weidenrindentee zur Behandlung steifer Gelenke und rheumatischer Schmerzen, weil die Weide biegsame Zweige besitzt. Da Weiden, mit den "Füßen" in Wasser stehend, anscheinend keinen Schaden nehmen, war dies für die Signaturenlehre ein Hinweis dafür, daß sie gegen Krankheiten wirksam sind, die ihre Ursache in nassen Füßen , z.B. Erkältungen haben. Doch bald geriet das natürliche Schmerzmittel in Vergessenheit. Die Weiden wurden nämlich als Materiallieferanten für Korbmacher bedeutungsvoll. So kam es, daß jeder hart bestraft wurde, der sich unbefugt an den biegsamen Ruten vergriff.

Im 18. Jahrhundert war es der Engländer Stone, der feststellte, daß der bittere Geschmack der Weidenrinde dem Geschmack der peruanischen Chinarinde gleicht, die gegen Sumpffieber eingesetzt wurde. Daraufhin legte er 1763 der Royal Society in London eine wissenschaftliche Arbeit vor, in der er den Einsatz der Weidenrinde bei Fieber beschreibt. Diese Erkenntnis machte man sich später in Deutschland zunutze, weil dringend Ersatz für die aus dem Ausland stammende Chinarinde benötigt wurde. Denn Napoleon hatte 1806 die Kontinentalsperre verhängt.

Der Münchner Professor Johann Andreas Buchner war der erste Pharmazeut, der die Weidenrinde wissenschaftlich untersuchte. Man schrieb das Jahr 1828. Durch Kochen bekam er die gelbliche Masse, der er den Namen Salicin (abgeleitet von Salix) gab. Ein Jahr später beschäftigte sich der französische Apotheker Leroux mit der Weidenrinde und isolierte den Stoff Salicin in Kristallform.

1838 stellte der italienische Professor Raffaele Piria, der in Pisa und Turin lebte, als erster aus dem Salicin die Salicylsäure her. Ungefähr parallel zu Leroux destillierte der SchweizerApotheker Pagenstecher aus den Blüten des krautigen Mädesüß (Filipendula ulmaria; syn. Spiraea ulmaria) Salicylaldehyd, das später von dem Deutschen Löwig zu Salicylsäure oxidiert wurde.

1853 gelang es dem Chemiker Charles Frederic Gerhardt aus Straßburg erstmals Acetylsalicylsäure zu synthetisieren. Diese Substanz war allerdings verunreinigt und nicht haltbar. Der in Marburg forschende Professor Kolbe konnte dann die chemische Struktur der Salicylsäure aufklären und deren Synthese beschreiben. Bereits 1874 wurde mit der industriellen Produktion der Salicylsäure begonnen. Das erste synthetisch hergestellte Schmerzmittel konnte zu einem Zehntel des Preises, der für aus der Weide gewonnener Salicylsäure gezahlt werden mußte, auf den Markt gebracht werden.

1876 wiesen Ries und Stricker nach, daß die Salicylsäure sich auch für die Behandlung rheumatischer Fieber eignet. Doch diese Substanz schmeckte unangenehm bitter, wurde von manchen Kranken nicht vertragen, zumal sie die Magenschleimhaut angriff und Blutungen verursachte. Auf der Suche nach der besseren, doch ebenso wirksamen Substanzen stieß 1897 Felix Hoffmann, Chemiker bei der Firma Bayer , auf Acetylsalicylsäure (abgekürzt ASS), die er durch die Acetylierung der Salicylsäure erhielt. Auch gelang ihm bald die Herstellung in großtechnischem Maße. ASS wurde klinisch getestet und als positiv bewertet, so daß es zugelassen wurde und in die Produktion gehen konnte. Als Warenbezeichnung wurde dem neuen Medikament von der Firma Bayer der Name Aspirin gegeben. Das A steht für Acetyl, spir für Spiriae ulmaria (siehe vorne!). Die Anmeldung dieses Namens erfolgte am 1.2.1899, der Eintrag in die Warenzeichenrolle des Kaiserlichen Patentamtes in Berlin am 6.3.1899.

So begann der Siegeszug dieses schon damals vielseitig verwendeten Medikamtes, und er ist nicht zu bremsen. Immer neue Indikationen kommen hinzu, und weltweit wird geforscht. In den 70-iger Jahren klärte der britische Pharmakologe John R. Vane den Wirkmechanismus der Acetylsalicylsäure auf und erhielt dafür 1982 den Nobelpreis für Medizin. 1996 wurde dem Spanier Joan Claria Enrich für seine Erforschung zur Minderung des Risikos für bestimmte Krebserkrankungen durch ASS der Internationale Aspirin-Forschungspreis verliehen. Man kann davon ausgehen, daß statistisch gesehen heute etwa alle zweieinhalb Stunden eine wissenschaftliche Veröffentlichung über ASS erscheint.

C. Exner und H. Dapper
 

 




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