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Johanniskraut – vom traditionellen Heilmittel zum modernen Antidepressivum

von B.M. Müller & E. Wanghofer

Die Entwicklung antidepressiver Substanzen begann mit der Beschreibung der therapeutischen Wirksamkeit des Imipramins bei depressiven Patienten durch den Schweizer Psychiater Kuhn. Inzwischen steht dem Arzt für die Behandlung depressiver Erkrankungen mit verschiedener Symptomatik eine Reihe von Arzneistoffen mit unterschiedlicher chemischer Struktur zur Verfügung. Begleitet wird der Einsatz dieser Arzneistoffe jedoch von relativ starken, teilweise gravierenden Nebenwirkungen, die eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erfordern. Für die Behandlung leichter bis mittelschwerer Beschwerden, die bereits eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen bedeuten, waren die medikamentösen Therapiemöglichkeiten daher lange Zeit begrenzt.

Noch vor wenigen Jahrzehnten in der Medizin kaum akzeptiert, fand das pflanzliche Heilmittel Johanniskraut auf der Suche nach neuen, nebenwirkungsarmen Therapeutika seit Ende der 80er Jahre eine einzigartige Renaissance. Weitreichende analytische, pharmakologische und klinische Untersuchungen stellten heraus, daß Johanniskraut in der Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen eine signifikante Heilungsrate mit geringen Nebenwirkungen besitzt.


1. Depressive Erkrankungen


Depressionen sind neben den Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen. Umfragen ergaben, daß etwa 20 % der Bevölkerung zeitweise an depressiven Erkrankungen leiden (1). Das klinische Bild kann sehr vielschichtig sein. Patienten mit klinischen Depressionen leiden unter psychischen und körperlichen Beschwerden, die ihre Lebensqualität massiv herabsetzten können.
Depressionen werden nach ICD-10 als eine affektive Störung definiert, die mit einer typischen Symptomatik einhergeht (2). Für die Indikationsstellung müssen bei jedem Patienten drei Aspekte erfaßt werden:
– die depressive Symptomatik (Haupt- und Zusatzsymptome, s. Tab.1)
– der Schweregrad der Depression
– der Verlauf der Depression (episodisch-phasischer Verlauf; chronischer Verlauf).
Typischerweise wird eine depressive Erkrankung durch einen episodischen oder chronischen Verlauf gekennzeichnet. Selten tritt eine depressive Episode nur einmalig auf. In der Regel werden unipolare, also einseitig depressive Episoden, von beschwerdefreien Intervallen unterbrochen.
Die Beurteilung des Schweregrads der Depression basiert auf den Kriterien der ICD-10-Klassifikation:
Die leichte depressive Episode (F32.0) soll zwei der insgesamt 2 Hauptsymptome und mindestens zwei weitere Symptome aufweisen. Meist bestehen in solchen Fällen Schwierigkeiten, den häuslichen oder beruflichen Alltag zu meistern, ohne jedoch zu Einschränkungen dieser Aktivitäten zu führen.
Mittelgradige depressive Episoden (F32.1) gehen mit 2 oder 3 der Hauptsymptome einher, sowie mindestens 3 oder 4 anderen Symptomen. Es liegt ein breites Symptomenspektrum oder eine deutliche Ausprägung vor. Das alltägliche Leben ist nur mit Schwierigkeiten oder gar unter Einschränkungen zu bewältigen.
Schwere depressive Episoden (F 32.2 und F 32.3) zeigen mindestens 3 Hauptsymptome und mindestens 4 weitere Symptome. Die sozialen, häuslichen oder beruflichen Aktivitäten sind meist nicht mehr fortzusetzen. Oft besteht die Gefahr eines Suizids. Kombiniert können psychotische Symptome auftreten, die zu Wahnideen oder Halluzinationen führen.
Depressive Verstimmungen sind nach ICD-10 nicht definiert und sind von der behandlungsbedürftigen Depression abzugrenzen. Sie werden als Gemütserkrankungen verstanden, die ebenfalls einige depressive Symptome, wie Niedergeschlagenheit, Interessensverlust oder Antriebsmangel aufweisen, jedoch die Kriterien der leichten depressiven Episode nicht erfüllen.

Das primäre Vorliegen somatischer Beschwerden, wie gastrointestinaler Störungen, diverser Schmerzsymptome oder kardiorespiratorischer Symptome ist bei unklarer organische Genese häufig Anzeichen eines psychovegetativen Syndroms.
Weitere Möglichkeiten, den Schweregrad der Depression zu quantifizieren, stellen Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen dar. In der Depressionsforschung international anerkannt ist die Fremdbeurteilung des Patienten durch den Arzt anhand der Hamilton-Depressionsskala (HAMD) (4). Mit Hilfe von 21 Fragestellungen in den Einstufungskategorien von jeweils 0-2 oder 0-4 bestimmt der Arzt den depressiven Zustand des Patienten. In der Regel werden die ersten 17 Items zur Berechnung des Summenscores herangezogen. Im Allgemeinen erreichen nicht-depressive Patienten Summenscores unter 10 Punkten. Bis zu einem Gesamtwert von 18 Punkten wird von leichten Depressionen gesprochen. Werte (18 Punkte kennzeichnen das Vorliegen mittelschwerer und schließlich schwerer Depressionen.

Der depressive Zustand kann darüber hinaus durch Selbstbeurteilung des Patienten erfolgen. Etabliert ist hier beispielsweise die Depressionsskala nach von Zerrsen (D-S) (5). Dieser Test gibt der Teilnehmern 16 Statements von, die von „ich habe keine Freude an den verschiedensten Spielen und Freizeitbeschäftigungen” bis hin zu negativen Äußerungen wie „Ich habe keine Gefühle mehr” reichen. Der Ausprägungsgrad wird in vier Skalierungen von „trifft gar nicht zu” bis „trifft ausgesprochen zu” beurteilt, aus welchen der Summenscore gebildet wird.


2. Therapie depressiver Erkrankungen


Antidepressiva gelten bei Depressionen als Mittel der Wahl. Entscheidend für den Einsatz synthetischer Antidepressiva in der Therapie ist der Schweregrad des depressiven Zustandes. Die Nebenwirkungen synthetischer Psychopharmaka erschweren jedoch die breite Anwendung und erfordern eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung. Zudem besteht bei Überdosierung die Gefahr von lebensbedrohlichen Intoxikationen. In Tab. 2 sind die wichtigsten Nebenwirkungsprofile synthetischer Antidepressiva zusammengefaßt.

Als Alternative zu den klassischen tricyclischen Antidepressiva und Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern haben sich in der Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen vor allem im ambulanten Bereich nebenwirkungsarme Phytotherapeutika aus Johanniskraut etabliert. Die klinischen Ergebnisse und Erfahrungsberichte der letzen 10 Jahre bestätigen den erfolgreichen Einsatz von Hypericum-Präparaten in diesem Indikationsfeld.

3. Johanniskraut


3.1 Geschichte und Volksmedizin


Johannes dem Täuufer haben die christlichen Völker des Abendlandes eine Pflanze geweiht, das Johanniskraut, von der man glaubte, daß es wegen seiner strahlenförmigen Blütenstände besonders mit den Kr‹ften des Himmels verbunden sei (6). Möglicherweise ist die Bezeichnung „Johanniskraut” zuerst im gälisch-keltischen Kulturraum entstanden und erst im Rahmen der Christianisierung nach Mitteleuropa gebracht worden. Denn bereits im 6. Jahrhundert war das Kraut in Irland unter diesem Namen (St. John«s Wort) bekannt. Der rote Saft, der austritt, wenn man die Blüten zerdrückt, symbolisierte das Blut des Märtyrers Johannes, der für seinen Glauben auf Wunsch Salomes geköpft wurde.
Aber schon seit alters her wurden Arten der Gattung Hypericum als Arzneimittel genutzt. So kann man bei Plinius d.Ä.. (23-79 n.Chr.) einen Hinweis über ein Kraut „Hypereikon” finden, das bei Verbrennungen eingesetzt wurde. Auch wird Johanniskraut als Komponente eines Theriaks aufgeführt, den Kaiser Nero von seinem Arzt Andromachus (1. Jh. n. Chr.) erhielt.
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit setzte man Johanniskraut dann als Psychotherapeutikum, das als fuga daemonum, als Apotropaikum diente, ein. Unter volkstümlichen Namen wie Teufelsfuchtel, Teufelsflucht, Hexenkraut, Teufelsbanner, Jageteufel und Hartheu wurden ihm starke zauber- und teufelabwehrende Kräfte zugeschrieben. Die hellen Punkte, die man sieht, wenn man die gelben Blätter gegen das Licht hält – es handelt sich um Sekretbehälter, die eine helle Flüssigkeit aus ätherischem Öl und Harz enthalten – erwecken den Eindruck als sei die Pflanze durchlöchert. Der Sage nach sollen diese Löcher vom Teufel stammen, der erbost über die Macht, die dieses Kraut über böse Geister und über ihn selbst besaß, die Blätter mit Nadeln zerstochen habe. Aber nicht nur in der Volkskunde, sondern auch im offiziellen Bereich der katholischen Kirche spielte Johanniskraut eine Rolle: beim Exorzismus. Tränke mit Johanniskraut wurden gezielt dazu eingesetzt, um den Teufel oder andere böse Geister aus dem Körper von Besessenen zu vertreiben.

Auch als Geständnistrunk für Gefolterte, denen der Tod auf dem Scheiterhaufen drohte und denen vorher der vermeintliche Teufel oder der böse Geist ausgetrieben werden sollte, wurde Johanniskraut von der kirchlichen Wissenschaft verwendet.
Wahrscheinlich stellte man aber auch psychisch Kranke, die damals als vom Teufel besessene Menschen betrachtet wurden, durch diese Pflanzenauszüge ruhig und befreite sie aus ihrer depressiven Stimmungslage.

Der Gebrauch des Johanniskrautes ist bis zur Gegenwart lückenlos nachgewiesen. Die lange traditionelle Erfahrung mit dieser Droge spiegelt sich in den Monographien der Kommission E und ESCOP wieder (7,8). Monographiert sind die Indikationen psychovegetative Störungen, depressive Verstimmungen, Angst und/oder nervöse Unruhe.

Volksmedizinisch wird Johanniskraut in erster Linie als adstringierend wirkende Gerbstoffdroge zum Mundspülen bei Gingivitis oder innerlich bei Störungen des Verdauungstraktes angewandt. Mit dem Infus behandelt werden Diarrhöe, Gallenblasenerkrankungen oder Gastritis aber auch Gicht, Rheuma, Bronchitis und Asthma (9).

3.2 Droge und Inhaltsstoffe


Die Arzneidroge Hyperici herba Johanniskraut , Hypericum perforatum L. (Abb.1), gehört zur Familie der Hypericaceae. Die ausdauernde Pflanze wird etwa 60 cm hoch und besitzt fünfzählige, gelbe Blüten, aus welchen beim Zerreiben roter Saft austritt. Der Name Johanniskraut leitet sich vom Beginn der Blütezeit „zu Johanni”, also um den Johannistag am 24. Juni ab. Die elliptischen Blätter sind von Ölbehältern durchscheinend „perforiert”. Johanniskraut wächst in Europa, Nordafrika und Westasien. Für die pharmazeutische Herstellung von Johanniskrautextrakten werden allerdings speziell angebaute Pflanzen und keine Wildsammlungen verwendet.
Die Arzneidroge Hyperici herba, DAC 1986, besteht aus den getrockneten, kurz vor oder während der Blütezeit gesammelten, oberirdischen Teilen von Hypericum perforatum L.

Inhaltsstoffe des Johanniskrauts
Naphtodianthrone
Eine für Johanniskraut charakteristische Naturstoffklasse sind die rot gefärbten Hypericine mit Naphtodianthron-Struktur. Mengenmäßig von Bedeutung sind Hypericin und Pseudohypericin sowie deren Biosynthesevorstufen Protohypericin und Protopseudohypericin (Abb. 2). Da die Hypericine chemisch eindeutig definiert sind, eignen sie sich gut für die Standardisierung von Johanniskraut. Der Gehalt liegt in trockenen Kraut bei durchschnittlich 0,1 – 0,15 Prozent und ist in Blüten und Knospen (0,2 – 0,3 Prozent) am höchsten (10). Die Hypericine sind photodynamisch wirksame Substanzen, die unter Lichteinwirkung zyklisiert werden und besonders bei hellhäutigen Personen zu sonnenbrandähnlichen Reaktionen führen können.
Phloroglucinderivate
Charakteristisch für Hypericum perforatum ist das Vorkommen von Hyperforin (2 bis 4 Prozent) sowie in geringer Menge Adhyperforin (10) (Abb. 2). Diese sehr instabilen und oxidationsempfindlichen Verbindungen konnten bisher vor allem in Frischpflanzenmaterial nachgewiesen werden.
Flavon- und Flavonolderivate
Johanniskraut enthält ein breites Spektrum an Flavonoiden. Hauptsächlich vertreten sind die Quercetinglycoside Hyperosid, Rutosid, Quercitrin und Isoquercitrin sowie die Aglka Quercetin, Kämpferol und Luteolin. In geringer Menge sind in den Blüten von Hypericum perforatum die Biflavonoide wie Amentoflavon enthalten.
Gerbstoffe
Johanniskraut besitzt einen hohen Gehalt an Gerbstoffen von Catechin-Typ. In jüngster Zeit ist auch das Vorkommen von Procyanidinen pharmakologisch von Interesse (11).
Weitere Inhaltsstoffe
Xanthone, ätherische Öle, Pflanzensäuren

3.3 Pharmakologische Wirkungen


Die bisher vorliegenden biochemischen und tierexperimentellen Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, daß die antidepressive Wirksamkeit von Johanniskrautextrakten auf dem Zusammenspiel mehrerer Wirkmechanismen beruht. Jedoch ist nicht bekannt, welcher Inhaltsstoff der Hauptträger der therapeutischen Wirkung ist. Deshalb geht man bislang davon aus, daß mehrere Inhaltsstoffe oder die gesamte stoffliche Kombination des Extraktes für die Wirksamkeit von Johanniskraut-Präparaten verantwortlich sind.
Um die therapeutische Wirkung von Hypericum-Extrakt bei Depressionen zu untersuchen, bedient man sich biochemischer Modelle, die im Rahmen der Erforschung der Wirkmechanismen von Antidepressiva heute als relevant angesehen werden.
Hemmung der Monoaminoxidase (MAO)
Die MAO ist wesentlich am Abbau des Neurotransmitters Noradrenalin beteiligt. Durch eine Hemmung der MAO, wie durch das synthetische Antidepressivum Tranylcypromin, kommt es zu einer Erhöhung der Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt und in der Folge zu adaptiven Veränderungen auf postsynaptischer Seite.
Für verschiedene Hypericum-Flavonoide wie Quercetin, Luteolin und Kämpferol (10-5mol/l) konnte in-vitro eine Hemmung der MAO-Aktivität nachgewiesen werden (12). Diese Verbindungen sind in Johanniskrautextrakten jedoch in äußerst geringer Menge enthalten. Mit Hypericum-Extrakt und den Naphtodianthronen Hypericin und Pseudohypericin wurden in diesem Testsystem erst in Konzentrationen über 10-4 mol/l Hemmeffekte gemessen, die therapeutisch nicht mehr relevant sind (13). Heute wird daher eine Hemmung der MAO-A oder MAO-B nicht mehr als wesentliches Wirkprinzip von Johanniskraut betrachtet.

Wiederaufnahmehemmung von Neurotransmittern und Beeinflussung der Rezeptordichte
Eine Hemmung der synaptosomalen Aufnahme von Noradrenalin und Serotonin, die zu einer Erhöhung der Neurotransmitterkonzentrationen im synaptischen Spalt führt, gilt heute als primärer Wirkmechanismus aller tricyclischen Antidepressiva und der modernen SSRI. In-vitro wird die Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme dieser Transmittersubstanzen an Synaptosomen aus Ratten- oder Mäusehirn untersucht.

In diesen biochemischen Testsystemen konnte für den Hypericum-Extrakt eine Hemmung der Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahme mit halbmaximalen Hemmkonzentrationen von 1 – 4 mg/ml bestimmt werden. Daher wird vermutet, daß die antidepressive Wirkung von Johanniskraut über eine Beeinflussung der Neurotransmission im ZNS zustande kommt. Als wirksame Inhaltsstoffe in diesen Testsystemen wurden bisher Hyperforin, Hypericin und Kämpferol identifiziert (14,15), von welchen Hyperforin die größte Aktivität zeigte.
Der verzögerte Wirkungseintritt von Antidepressiva wird heute mit adaptiven Veränderungen im ZNS erklärt, die durch das anhaltende Überangebot von Neurotransmittern im synaptischen Spalt hervorgerufen wird. Die Dichte und Funktionalität von Rezeptoren kann erhöht (Up-Regulation) oder vermindert (Down-Regulation) werden. An der Ratte konnte nach 14tägiger Behandlung mit Johanniskrautextrakt eine Down-Regulation von Beta-Rezeptoren am frontalen Kortex festgestellt werden (15). Diese Veränderungen in der Rezeptordichte belegen, daß Hypericum-Extrakt die Blut-Hirn-Schranke überwindet und im ZNS relevante Effekte entfaltet. Ein Einfluß auf die Rezeptordichte könnte daher auch für den verzögerten Wirkungseintritt von Hypericum erst nach 2 – 3wöchiger Einnahme verantwortlich sein.


3.4 Klinische Erfahrungen


Die Prüfung der klinischen Wirksamkeit von Johanniskraut setzte vor etwa zwanzig Jahren ein. Es liegen inzwischen über 20 publizierte Patientenstudien vor (16,17). Untersucht wurden Mono- oder Kombinationspräparate mit Johanniskraut in Dosierungen von 300 mg bis 900 mg Extrakt bzw. 0,4 bis 2,7 mg Gesamthypericin täglich. Mittlerweile liegen auch placebokontrollierte Doppelblindstudien und Vergleichsstudien zu synthetischen Antidepressiva für leichte bis mittlere Schweregrade depressiver Erkrankungen vor. Die Symptom-Abnahme wurde durch psychometrische Meßverfahren, hauptsächlich die Hamilton-Depressionsskala (HAMD), die von-Zerrsen Depressionsskala (D-S) und die Clinical-Global-Impressions-Skala quantifiziert.

Die Vorgaben aktueller Richtlinien zur klinischen Prüfung von Antidepressiva, die eine Studiendauer von mindestens sechs Wochen, eine definierte Indikationsstellung gemäß ICD-10 bzw. DSM-IV und zusätzlich einen HAMD-Wert von mindestens 17 Punkten fordern, erfüllen allerdings nur wenige neuere Studien (Tab. 3). Die publizierten Studien zeigen übereinstimmend eine signifikante Verbesserung des depressiven Zustandes der Patienten. Aus zusammenfassenden Bewertungen ist der Schluß zu ziehen, daß Hypericum bei über 60 – 70 % der Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen antidepressiv wirkt (18). Der Wirkungseintritt konnte im allgemeinen nach zwei Wochen verzeichnet werden, wobei die Wirkung mit 6wöchiger Behandlung noch ansteigt. In einigen Studien wurde die Beeinflussung von Begleitsymptomen im Studienverlauf anhand von Beschwerdenlisten betrachtet. Befindensstörungen wie Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen oder Müdigkeit stehen häufig im Vordergrund der psychischen Erkrankung. Auch diese Begleitsymptome konnten durch eine Johanniskrautbehandlung signifikant vermindert werden.

Im Vergleich zu synthetischen Antidepressiva wies die Hypericum-Therapie bei gleicher Wirksamkeit ein deutlich günstigeres Nebenwirkungsprofil auf. Berichtet wurde hauptsächlich über Hautreaktionen, gastrointestinale Beschwerden, Müdigkeit oder Allergie. Diese Untersuchungen bestätigen, daß Johanniskraut als wirksame und zugleich nebenwirkungsarme Therapiemöglichkeit eine attraktive Alternative in der Behandlung depressiver Erkrankungen mittelschwerer Ausprägung darstellt.

3.5 Neue Entwicklungen


Eine mehrwöchige Johanniskraut-Behandlung stellt hohe Ansprüche an die Compliance der Patienten. Entsprechend der Monographie „Johanniskraut” der Kommission E sollte die tägliche Dosierung bei 2 – 4 g Hyperium-Droge liegen (7). Da zunehmend auch jüngere Menschen und vor allem Berufstätige unter depressiven Erkrankungen leiden, wird angestrebt, mit hochkonzentrierten Johanniskraut-Präparaten diese Dosis mit einer ein- bis zweimal täglichen Einnahme zu erreichen. Erste positive Erfahrungsberichte über den Einsatz einer hochkonzentrierten Hypericum-Zubereitung liegen inzwischen vor:
Die Wirksamkeit des Hypericumpräparates HYP 811* mit 425 mg Extrakt pro Kapsel, die umgerechnet 2 g Droge entsprechen, wurde im Rahmen einer Praxisstudie an Patienten mit depressiven Verstimmungszuständen überprüft (19). Die Anwendungsbeobachtung wurde multizentrisch von 125 niedergelassenen Allgemeinärzten, Praktischen Ärzten und Neurologen im Zeitraum von Dezember 1996 bis Juli 1997 durchgeführt. Dokumentiert wurde die Behandlung von 607 Patienten mit depressiver Symptomatik im Alter von 17 bis 89 Jahren über eine Beobachtungsdauer von 6 Wochen mit einer täglichen Dosierung von 425 – 850 mg Johanniskrautextrakt. Die Verlaufskontrolle durch den Arzt erfolgte anhand der Hamilton-Depressionsskala (HAMD). Für die Selbstbeurteilung der Patienten wurde der Fragebogen nach von-Zerrsen herangezogen. Parallel erfolgte die Beobachtung einzelner Befindensstörungen wie Niedergeschlagenheit und Interessensverlust sowie körperlicher Beschwerden. Zu Beginn lag der durchschnittliche HAMD-Score bei 19,2 Punkten und sank bis zur Abschlußuntersuchung auf einen Mittelwert von 7,4 Punkten (Abb. 3). Auch der Summenscore der Selbstbeurteilung nach von-Zerrsen nahm im Verlauf der Behandlung von 22,2 auf 8,9 Punkte ab. Dies entspricht, wie in der Fremdbeurteilung durch den Arzt einer Verminderung um 60 %. Wie Abb. 4 darstellt, besserten sich auch einzelne Befindensstörungen im Verlauf der Behandlung.Insbesondere Niedergeschlagenheit, Antriebshemmung und Konzentrationsschwäche zeigten eine Reduktion um 50 %. Das Auftreten somatischer Symptome wie Müdigkeit oder Appetitverlust konnte um durchschnittlich 35 % vermindert werden (Abb. 5). Die Verträglichkeit wurde ärztlicherseits in 89,4 % der Fälle als „sehr gut” oder „gut” bezeichnet. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen traten im Verlauf der Behandlung nur bei drei Patienten auf. Diese klagten über allergisches Exanthem, vermehrte Hautempfindlichkeit und Übelkeit.

Eine weitere Praxisstudie beobachtete die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Hypericumpräparates HYP 811 an 758 Patienten mit psychovegetativen Beschwerden unklarer Genese (20). Wie in Abb. 6 zu sehen, verminderten sich auch in dieser Studie körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Müdigkeit oder Magenbeschwerden deutlich im Verlauf der Behandlung. Übereinstimmend wurde eine ausgezeichnete Verträglichkeit dokumentiert. Während der gesamten Beobachtungszeit wurden keine unerwünschten Arzneimittelwirkungen festgestellt.
Mit der empfohlenen Dosierung von 425 – 850 mg Extrakt täglich wurden in diesen Anwendungsbeobachtungen trendmäßig die besten Ergebnisse erzielt. Insgesamt wurden 399 Patienten nach drei Behandlungswochen erfolgreich auf eine 1 x 1 Dosierung von Hypericum HYP 11 eingestellt. Diese ersten Erfahrungsberichte bestätigen daher, daß durch Entwicklung hochkonzentrierter Hypericum-Präparate die Einnahmehäufigkeit ohne Einschränkung der Wirksamkeit und Verträglichkeit gesenkt werden kann.

* Biocur Arzneimittel, Holzkirchen
 

Literatur
(1) Dilling, H. Weyerer, S.: Psychische Erkrankungen in der Bevölkerung bei Erwachsenen und Jugendlichen. In: Dilling, H., Weyerer, S., Castell, R. (Eds.), Psychische Erkrankungen in der Bevölkerung; Gustav Fischer Verlag, Stuttgart; 1-12, 1984
(2) Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, H. (Hrsg.): WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10, Kapitel V (F.). Huber, Bern, 2. Auflage 1993
(3) Franz, M.: Prevalence and course of somatoform complaints. Münch. Med. Wsch. 46, 675-679, 1997
(4) Hamilton, M.: Developement of a rating scale for primary depressive illness. Br. J. Soc. Clin. Phys. 6, 278-296, 1967
(5) von Zerrsen, D.: Beschwerdenskalen bei Depressionen. Therapiewoche 46, 4426-4440, 1973
(6) Czygan, F.C.: Kulturgeschichte und Mystik des Johanniskrautes. Z. Phytother. 14, 276-282, 1993
(7) BAz Nr. 228 i. d. F. vom 02.03.1989
(8) Hyperici Herba – St. John´s Wort, ESCOP, März 1996
(9) Hager´s Handbuch der Pharmazeutischen Praxis. Band 4, Hrsg. Hänsel, R., Keller, K., Rimpler, H., Schneider, G., Springer Verlag, Berlin: 479-495, 1992
(10) Hölzl, J., Sattler, S., Schütt, H.: Johanniskraut eine Alternative zu synthetischen Antidepressiva? Pharm. Ztg. 139, 3959-3976, 1994
(11) Butterweck, V., Wall, A., Liefländer-Wulf, U., Winterhoff, H., Nahrstedt, A.: Effects of the total extract and fractions of Hypericum perforatum in animals assays for antidepressant activity. Pharmacopsychiat. 30-Suppl., 117-124, 1997
(12) Demisch, L., Hölzl, J., Gollik, B., Kaczmarczyk, P.: Identification of selective MAO-type-A inhibitors in Hypericum perforatum L. (Hyperforat), Pharmacopsychiat. 22, 194, 1989
(13) Thiede, H.M., Walper, A.: MAO- und COMT-Hemmung durch Hypericum-Extrakte und Hypericin. Nervenheilkunde 12, 346-348, 1993
(14) Perovic, S., Müller, W.E.G.: Pharmacological Profile of Hypericum Extract; Arneim.-Forsch./Drug Res. 45 (II), 1145-1148 (1995)
(15) Effects of Hypericum extract (Li160) in biochemical models of antidepressant activity. Pharmacopsychiat. 30, 102-107, 1997
(16) Linde , K., Ramirez, G., Mulrow, C.D., Pauls, A., Weidenhammer, W., Melchart, D.: St. John´s wort for depression – an overview and metaanalysis of randomised clinical trials. BMJ 313, 253-258, 1996
(17) Volz, H.-P: Controlled clinical trials of Hypericum extracts in depressed patients – an overview. Pharmacopsychiat. 30, 72-76, 1997
(18) Hippius, H.: Johanniskraut (Hypericum perforatum) – ein pflanzliches Antidepressivum, Münch. Med. Wschr. 139, 36-41, 1997
(19) Mueller, B. M.: St. John´s wort for depressive disorders: results of an outpatient study with the Hypericum preparation HYP 811. Advances in Therapy 15, 109-116, 1998
(20) Mueller, B. M.: Effects of Hypericum extract HYP 811 in patients with psychovegetative disorders. Advances in Therapy in press

Anschrift der Verfasser:
Dr. B. M. Müller & Dr. E. Wanghofer
Industriestr. 25
83602 Holzkirchen

 



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