Blume des Jahres 1996: Die Kuhschelle
Von der Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen wurde für dieses Jahr die Kuhschelle ausgewählt. Sie ist nicht nur selten, sondern auch von beachtenswerter Schönheit und steht stellvertretend für viele andere Pflanzenarten, die Mager- und Trockenrasen besiedeln. Dieses Ereignis soll hier zum Anlaß genommen werden, etwas mehr über diese Blume zu erfahren und ihre Bedeutung für die Heilkunde herauszustellen.
Zunächst muß festgestellt werden, daß es von der Kuhschelle, auch Küchenschelle genannt, in Mitteleuropa insgesamt sechs Arten gibt. Sie alle gehören zu der Gattung Pulsatilla, die wiederum zu den Hahnenfußgewächsen (Ranunculaceae) zu stellen ist. Es handelt sich bei allen um bis zu 30 cm hoch werdende, meist im Frühjahr blühende Stauden mit meist glockigen, außen behaarten Blüten von beachtlicher Größe. Auf nährstoffreichen Matten und Bergwiesen der Alpen wächst Pulsatilla alpina. Sie heißt zu deutsch nicht nur Alpenkuhschelle sondern auch Alpenanemone. Daraus ist ersichtlich, daß die Pulsatilla-Arten nahe mit den Anemonen verwandt sind, früher sogar unter dem Gattungsnamen Anemone geführt wurden. Ihre quirlständigen Stengelbläter sind gestielt bei P. alpina. Die Blütenfarbe ist weiß oder gelb. Die Blütezeit fällt erst in den Sommer. Eine nur im Harz auf dem Brocken im Magerrasen und Heiden auftretende Art ist P. alba. Auch sie blüht weiß, allerdings zwischen Mai und August. Dicht bronzefarben behaart mit sitzenden, quirlständigen Blättern ist die seltene P. vernalis, die Frühlingskuhschelle. Ihre zwischen April und Juni erscheinenden Blüten sind innen gelblich-weiß, außen aber violett gefärbt. Diese Art meidet wie die vorige Kalk. Sie kommt auf Silikatmagerrasen und in lichten Kiefernwäldern vor. Als vierte Art kann P. patens genannt werden. Sie wird im Deutschen als Finger- oder Sternkuhschelle bezeichnet. Besondere Merkmale sind die dreizähligen Grundblätter und die sternförmig ausgebreiteten, violetten Blüten. Sie blüht bereits ab März bis zum Mai und wächst auf Sandtrocken- und Halbtrockenrasen und in trockenen Kiefernwäldern. Sie ist sehr selten. Vorkommen sollen bei Guben und in der Garchinger Heide in Bayern sein. Dann wäre die zerstreut vorkommende P. vulgaris, die Gemeine Kuhschelle, zu erwähnen. Sie besitzt 2-3fach fiederspaltige Grundblätter mit schmalen Zipfeln. Die Blüten, die im April/ Mai zu sehen sind, haben eine hellviolette Farbe. Ihr Standort sind warme Kalk-, Sand-, Silikat-Trockenrasen, trockene Heiden und Kiefernwälder. Schließlich ist als letzte Art P. pratensis aufzuführen. Ihr deutscher Name ist entsprechend Wiesenkuhschelle. Sie zeigt sich als kalkholde Pflanze in kontinentalen Sand- und Silikat-Trockenrasen und trockenen Kiefernwäldern. Besondere Charakteristika sind ihre hängende Blüte, von der die Hülle nur wenig länger als die Staubblätter und von purpurner oder schwarzvioletter Färbung ist. Gerade die letzte Art ist den Heilkundigen geläufig, wenn sie sich homöopathisch betätigen.
Phytotherapeutisch können sie und die anderen Pulsatilla-Arten wegen ihrer Toxizität nicht verwendet werden, obwohl das in früheren Zeiten anders war. Damals waren die Anwendungsgebiete Erkrankungen und funktionelle Störungen der Geschlechtsorgane, des Magen-Darmtraktes sowie der ableitenden Harnwege, Entzündungen und Infektionen von Haut und Schleimhaut und auch Nervenschmerzen. Die Eigenschaften werden in der volksheilkundlichen Literatur mit schmerzlindernd, schweiß- und harntreibend, hautrötend und krampflösend angegeben. Doch die Risiken sind groß. Es kommt allgemein zu heftigen Reizerscheinungen. So treten beispielsweise bei der äußeren Anwendung von Zubereitungen aus frischen Pflanzenmaterial Hautrötungen, Blasenbildung und Juckreiz auf. Die orale Aufnahme führt zu Reizungen der Verdauungsorgane, der Nieren und der ableitenden Harnwege. Weitere Reaktionen sind Krämpfe, Erbrechen und Durchfall. In seltenen Fällen wurde Atemlähmung beobachtet, die den Tod zur Folge hatte. Im Tierversuch konnte zuerst Erregung, dann Lähmung des Zentralen Nervensystems festgestellt werden. Weibliche Weidetiere, die Kuhschelle oder Pflanzen mit ähnlichen Inhaltsstoffen zu sich nahmen, erlitten Fehl- und Frühgeburten. Mißbildungen waren keine Seltenheit.
Die Pusatilla-Arten sind in allen Teilen giftig. In ihnen kommt das Glycosid Ranunculin vor, das sich enzymatisch in Protoanemonin und Glucose spaltet. Bei Protoanemonin handelt es sich um ein Alkakoid, das sich chemisch ein Lacton der Methylen-oxy-crotonsäure spaltet. Weiterhin sind im Kraut Saponine, Chelidonsäure, Gerbstoffe, Harz und ätherisches Öl nachweisbar. Zur Herstellung der Homöopathika wird die frische, während der Blütezeit gesammelte, ganze Pflanze von Pulsatilla pratensis verwendet. Die gebräuchlichsten Potenzen liegen zwischen D4 und D12 oder höher. Angriffspunkte sind das Zentralnervensystem, die weiblichen Geschlechtsorgane, der Magen-Darm-Trakt mit Leber und Gallenblase, Pfortader und peripheres Venensystem, Muskeln und Gelenke und schließlich alle Schleimhäute. Daraus ist ersichtlich, daß Pulsatilla bei den verschiedensten Krankheiten wirksam werden kann. Es ist nicht nur ein oft verwendetes Frauenmittel (Amenorrhoe, Dysmenorrhoe, Sterilität, klimakterische Erscheinungen, Fluor albus, Wehenschwäche). Auch Gastritis, Hepato- und Cholecystopathie, Venostasen und Krampfaderbeschwerden oder Muskel- und Gelenkrheumatismus werden als Hauptindikationen genannt. Nicht zu vergessen sind Erkrankungen der Augen (Bindehautentzündung), der Nase (Schnupfen) und der Ohren (Mittelohrentzündung). Doch muß in der Homöopathie von Symptomen und Modalitäten ausgegangen werden, damit das Mittel wirklich greift. Einige ganz charakteristische sollen hier kurz mitgeteilt werden: 1) blonde, blauäugige, hellhäutige Frauen, die viel frieren, deren Menses unregelmäßig oder schwach ist, die verzagt oder entschlußschwach sind, depressive Phasen haben, die stundenlang über ihre vielen Krankheiten berichten, obwohl objektiv kaum Befunde vorliegen; 2) alle Beschwerden schlimmer im warmen Zimmer, bei heißem Wetter und in Ruhe; 3) Gastritis mit schlechtem Geschmack, weiß belegter Zunge, Völlegefühl, Brechneigung und Unverträglichkeit fetter Speisen und fettem Schweinefleisch; 4) Venostase der Beckenorgane, Krampfaderbeschwerden, angeschwollene Unterschenkel, Neigung zu kalten Füßen; 5) Rheumatische Beschwerden, reißend, spannend, stechend, den Ort wechselnd.
H. Dapper
entnommen den BERLINER HEILPRAKTIKER NACHRICHTEN