Eine eurasische Arzneipflanze: Der Spitzwegerich
(Plantago lanceolata)
Alljährlich können wir auf unseren sommerlichen Kräuterwanderungen in Berlin und im Brandenburgischen Umland den Spitzwegerich sehen und seine pharmazeutisch-medizinischen Eigenschaften vorstellen. Aber wir müssen an Wiesen, Rainen und Dämmen der freien Landschaft vorbeikommen, sonst ist er kaum zu finden. Und reisen wir in andere Länder, so treffen wir ihn oft auch an, selbst wenn wir über den großen Teich in die USA fliegen. Trotzdem ist er eine eurasische Pflanze, die ursprünglich nur in dem Gebiet vorkam, das dem großen Laubwaldgebiet Eurasiens angehört, wobei die Massenverbreitung allerdings mehr im Westen lag. Daß der Spitzwegerich heute beinahe weltweit verbreitet ist, verdankt er dem Menschen. So umfaßt sein heutiges Areal fast ganz Europa,westlich bis Skandinavien und Island, Nord-, Vorder - und Mittelasien, einschließlich Himalaja, Sri Lanka, Nordafrika, Nordamerika, Brasilien, Chile, Feuerland, Australien und Neuseeland. Er stellt also in vielen Gebieten einen Neophyten dar, ein Neubürger, der vom Menschen in der geschichtlichen Zeit eingeführt wurde und der sich dann eingebürgert hat. Bei uns gilt der Spitzwegerich als Archäophyt, der bereits in der jüngeren Steinzeit vermutlich gemeinsam mit Getreidearten aus Vorderasien unbeabsichtigt als Unkraut nach Mitteleuropa kam.
So ist verständlich, daß der Spitzwegerich im alten Ägypten zu Zeiten der Pharaonen nicht vorhanden war. Angaben in der Literatur, nach denen er dort zu Heilzwecken verwendet wurde, sind demnach falsch. Bei den von Dioskurides aufgeführten Wegerich-Arten dürfte es sich auch nicht um den Spitzwegerich gehandelt haben. Im Mittelalter wurde er hingegen in Deutschland oft bei verschiedenen Krankheiten zur innerlichen und äußerlichen Einnahme empfohlen (Hildegard von Bingen, Albertus Magnus, Leonhart Fuchs). Damals galten für ihn folgende Indikationen: Blutungen verschiedener Art, Weißfluß, Blasenschwäche, Leberleiden, Durchfallerkrankungen, Sodbrennen, Spulwürmer, Husten, Asthma, Kopfschmerz, Fieber, Gicht, Rheuma, Geschwülste, Geschwüre, Wunden, Augenentzündungen, Insektenstiche.
Heute ist er auch in anderen Ländern der Erde durchaus als Heilpflanze bekannt, wobei immer wieder seine Wirksamkeit bei Katarrhen hervorgehoben wird. So wird er beispielsweise in der Türkei (Baytop), in Nordafrika (Boulos), in Kuwait (Halifa & Sarkasi),Indien (Chopra, Nayar & Chopra), Südostasien (Perry), Süd- und Ostafrika (Watt & Breyer-Brandwijk) sowie in Mexiko (Martinez) zur Heilung von Krankheiten benutzt. Die nordamerikanischen Indianderstämme dürften hingegen nur den Breitwegerich verwenden.
Der Spitzwegerich heißt wissenschaftlich Plantago lanceolata. Das Wort Wegerich kommt aus dem Althochdeutschen. In ihm stecken wega (=Weg) und rih (= König). Man könnte den deutschen Namen mit Wegbeherrscher übersetzen, was auf den Standort hinweist. Plantago leitet sich vom Lateinischen planta = Fußsohle ab, weil einerseits die breiteren Blätter des Breitwegerichs an die Fußsohlen des Menschen erinnern, andererseits der Breitwegerich eine Trittpflanze ist, d.h. dort wächst, wo der Tritt des Menschen, aber auch die Räder von Fahrzeugen Pflanzen das Leben schwermachen und nur Spezialisten eine ökologische Nische geboten wird. Der Spitzwegerich mit seinen lanzettlichen (lanceolatus) Blättern ist jedoch keine Trittpflanze. Deshalb wird er ,von den nordamerikanischen Indianern auch nicht ,,Fußstapfen der Blaßgesichter" genannt, wie oft behauptet wird. Dieser Name trifft nur für den Breitwegerich (Plantago major) zu.
Der zur etwa 220 Arten umfassenden Familie Plantaginaceae (Wegerichgewächse) zu zählende Spitzwegerich ist eine krautige Pflanze von 5 - 50 cm Höhe. Er besitzt eine reichverzweigte Wurzel, mit der er bis 60 cm Tiefe gehen kann. Alle Laubblätter, in einer Rosette zusammenstehend, sind lanzettlich. Die Spreite geht allmählich in den Stiel über, der am scheidigen Grund + wollig behaart ist. Vorne läuft sie spitz zu. Ihr Rand ist glatt oder entfernt gezähnelt. Sie ist anliegend behaart bis beinahe kahl. Besonders auffällig sind die 3 - 7 parallel angeordneten Adern, die stark hervortreten und dem Blatt besondere Stabilität verleihen. Der Adernverlauf weicht von der Norm ab, denn alle Zweikeimblättrigen Pflanzen (Dicotyledoneae) , zu denen auch die Gattung Plantago gehört, zeigen Netznervatur. Die Blätter werden vom Vieh gerne gefressen und sind der wichtigste medizinisch nutzbare Teil der Pflanze. Die pharmazeutische Bezeichnung lautet Plantaginis lanceolatae Herba oder Folium (früher Herba oder Folia Plantaginis lanceolatae).
Der aufrecht wachsende oder aufsteigende, blattlose, kantige, gefurchte und angedrückt behaarte Schaft trägt am Ende während der Blütezeit zwischen Mai und September eine dichte, walzliche Ähre mit verhältnismäßig kleinen, unscheinbaren Zwitterblüten. Da sie proterogyn (vorweiblich) sind und hauptsächlich vom Wind bestäubt werden, blühen sie zonenweise von unten nach oben auf. Zuerst ist das weibliche Stadium an der Reihe, dann folgt das der Staubblätter, die sich durch leicht bewegliche Staubfäden und -beutel auszeichnen. Die sehr kleinen, kugeligen, glatten und nicht klebenden Pollenkörner (Durchmesser 0,028 mm) werden bei warmem, trockenem Wetter entlassen und durch Luftbewegungen fortgetragen. Obwohl die Blüten weder auffällige Hüllblätter tragen, Nektar absondern noch duften, werden sie doch von Insekten besucht. Es handelt sich einerseits um Schwebfliegen, die auch Pollen übertragen, andererseits um pollenfressende, kleine Käfer. Bedeutsam ist, daß manche Menschen allergisch auf den Pollenflug des Wegerichs reagieren.
Die später erscheinenden Kapselfrüchte gehen aus einem oberständigen Fruchtknoten hervor. Sie sind eiförmig, 3 - 4 mm lang und öffnen sich mittels eines Deckels. Die 2 mm langen Samen haben eine schwärzliche Färbung und eine schleimhaltige Außenschicht. Im Gegensatz zum Breitwegerich oder gar von Plantago afra und P.arenaria (Flohsamen = Psyllii Semen) sind die Samen weniger quellfähig. Trotzdem werden sie als Schleimsamen bezeichnet, weil sie eine Klebverbreitung haben. Sie finden in der Medizin keine Verwendung. Im Spätherbst und im Vorwinter werden sie aber von körnerfressenden Vögeln verzehrt.
Als Hemikryptophyt zieht der Spitzwegerich sich im Herbst zurück, bleibt aber am Leben und überdauert die ungünstige Zeit . Er wird deshalb zu den Stauden gerechnet. Er bevorzugt frische oder wechselfrische, nährstoffreiche, meist tiefgründige, sandige oder lehmige Böden. Vor allem sind Fettwiesen und -weiden, Parkrasen, vor allem auch magere Ausbildungsformen wie Trocken- und Halbtrockenrasen, Wegränder und sogar Äcker von der Ebene bis ins Gebirge seine Standorte. Da er formenreich auftritt , werden in Mitteleuropa zwei deutlich unterscheidbare Unterarten beschrieben. Während die eine Unterart (ssp. lanceolata) nur wenig Behaarung aufweist und in Wiesen vorkommt, ist die andere (ssp. sphaerostachya) vor allem mit stark wollig behaartem Blattgrund ausgestattet und Bewohner trockener, lückiger Rasen.
Die Inhaltsstoffe machen den Spitzwegerich zu einer wichtigen Arzneipflanze. Deshalb wird er auch in europäischen Pharmakopöen (DAB 9, HAB 9, Helv. VI u.a.) angetroffen. Die Kommission E des früheren Bundesgesundheitsamtes hat bereits am 11.11.1985 für Plantaginis lanceolatae herba eine positive Monographie erstellt. In der Droge finden wir vor allem Schleimstoffe, das Glykosid Aucubin (Rhinanthin), Gerbstoffe und Kieselsäure. Die Schleimstoffe dürften für die Reizlinderung verantwortlich sein. Sie überziehen die angegriffenen Schleimhäute des Atemtraktes mit einer Schutzschicht, lassen Entzündungen abheilen, bewahren sie vor neuen Angriffen von außen und verhindern dadurch den reflektorisch ausgelösten Hustenreiz. Aucubin wirkt erst als Aucubigenin, das enzymatisch durch Hydrolyse bei der Aufbereitung der Droge entsteht. Sein Gehalt kann beim Spitzwegerich bis zu 1,6 % betragen. Dies ist die größte Menge, die bisher bei Wegericharten analysiert wurde. Hier liegt der Effekt bei der Wachstumshemmung oder sogar Abtötung humanpathogener grampositiver und gramnegativer Bakterien. Auch die Gerbstoffe wirken sich günstig auf die Schleimhäute aus. Auf Grund ihrer adstringierenden Eigenschaft helfen sie, die gesteigerte Sekretion herabzusetzen, die Entzündung einzudämmen, das Terrain von krankheitserregenden Bakterien zu befreien und einen leicht lokalanästhetischen Effekt zu erreichen. Schließlich trägt auch die Kieselsäure zur Gesundung der Atemwege bei, indem sie das Bindegewebe kräftigt, evtl. vorhandene tuberkulöse Herde in der Lunge abkapselt und durch Anregung der Leukozytose sowie Stimulierung der Interferon-Produktion für die Steigerung der Abwehr sorgt. Der Spitzwegerich verfügt also über eine so günstige qualitative und quantitative Wirkstoffkombination, so daß wir mit ihm über eines der besten Hustenmittel verfügen. Neben Efeu und Thymian erhielt nur noch er im Rahmen einer vor drei Jahren durchgeführten Marktanalyse eine positive Monographie als Expektorans und Ein - Pflanzen - Präparat.
Die Aufbereitung der Spitzwegerich-Blätter und anderer Teile für medizinische Zwecke erfolgt unterschiedlich, wenn man die Literatur studiert. Zum einen ist die Verwendung der frischen Pflanzenteile in der Volksheilkunde üblich. Das Aufträufeln ausgepreßten Saftes ebenso wie das Auflegen gequetschter Blätter auf Wespen- und Bienenstiche, Wunden, nässende Hautentzündungen und wirken abschwellend und abheilend. Interessant ist, daß der Saft nicht so schnell schimmelt und unbrauchbar wird. Vermutlich ist dies dem antibiotisch wirksamen Aucubin zu verdanken. Junge, zarte, im Frühjahr gesammelte Blätter können als Salat gegessen werden. Sie haben einen verdauungsfördernden und stuhlregulierenden Effekt. Ähnlich wirken angeblich die schleimproduzierenden Samen. Zur Blütezeit geerntete Pflanzen einschließlich Wurzel lassen sich mit anderen Kräutern zu Suppe verarbeiten. Die gut gesäuberte Wurzel, gekocht und gekaut , soll bei Zahnschmerzen helfen.
Am bekanntesten ist die Zubereitung eines Tees aus der Droge. Das Material zu deren Herstellung wird während der Blütezeit gesammelt. Hauptlieferländer der im Handel befindlichen Droge sind das ehemalige Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, Polen und Rußland. Die Ware ist Wildbeständen entnommen. Der Anbau ist unbedeutend. Er findet auf kleinen Flächen in Deutschland, Tschechien, Frankreich und Belgien statt. Wichtig ist, daß Droge und Tees (Species, z.B. Mischung mit Lungenkraut Pulmonaria officinalis) sachgerecht aufbewahrt und für die innerliche und äußerliche Verwendung richtig aufbereitet werden. Sonst besteht die Gefahr des Verlustes an Wirkstoffen. Bei minderwertiger oder nicht richtiger Bearbeitung sowie bei Erhitzung, wie dies bei der Herstellung eines Aufgusses oder gar einer Abkochung geschieht, geht die Wirksamkeit des Spitzwegerichs zumindest teilweise verloren. Es findet dann eine Zerstörung des Enzyms Beta-Glukosidase statt, wodurch die Hydrolyse des Aucubins verhindert wird. Das bedeutet, daß dann ein solches Getränk keine antibiotische Wirkung mehr hat. Geeignetere Aufbereitungen der Droge stellen heutzutage wäßrige Kaltauszüge oder Fluidextrakte dar. Kaltauszüge, für die 15 - 30g pro halbem Liter genommen werden, können aber nie eine gleichbleibende Qualität besitzen. Besser ist der Fluidxtrakt. Er kommt beispielsweise in dem Monopräparat Broncho-Sern vor, das von der pharmazeutischen Firma Sertürner in Gütersloh auf den Markt gebracht wird. Es handelt sich hierbei um einen zuckerfreien Sirup, von dem 100 g 20 g Spitzwegerich-Fluidexkrakt (1 ; 1) enthält. Beachtenswert ist nicht nur der niedrige Alkoholgehalt (6 %) sondern auch der in ihm enthaltene Zuckeraustauschstoff Malitol. So besitzt dieses angenehm schmeckende und lange haltbare Hustenmittel hervorragende Eigenschaften. Es leistet Dienste bei der Behandlung von durch Bakterien hervorgerufenen Katarrhen der oberen Luftwege und der entzündlichen Erkrankungen von Mund- und Rachenschleimhaut, die durch fremdstoffbelastete und klimaveränderte Atemluft verursacht werden. Es lindert den Hustenreiz, wirkt entzündungshemmend und erleichtert das Abhusten. Broncho-Sern fördert keine Zahnkaries und belastet nicht unnötig den Stoffwechsel des Diabetikers. Kontraindikationen, Neben- und Wechselwirkungen sind unbekannt. Als Dosierungsvorschlag werden täglich 3 x 1 Eßlöffel für Erwachsene und 3 x 1 Teelöffel für Kinder angegeben. Eine Flasche enthält 150 ml Sirup.
Aus: berliner heilpraktiker nachrichten
Hp Prof. Dr. H. Dapper
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